Neutrinos
Die Superstars der Teilchenphysik
Forscher spüren dem Rätsel der Neutrinos nach – und kommen dabei mehr als 60 Jahre nach deren Entdeckung allmählich einem der größten Rätsel der Naturwissenschaften auf die Spur.
Was große Experimente in der Physik angeht, stiehlt der Teilchenbeschleuniger LHC am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf seit der Entdeckung des Higgs-Teilchens allen die Show. Doch auch andere, ebenfalls riesige Forschungsanlagen halten die Physik mit ihrer Suche nach einem unscheinbaren Elementarteilchen in Atem: dem Neutrino.
Guido Drexlin, Teilchenphysiker am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), sagt: „Im Zoo der uns bekannten Elementarteilchen sind Neutrinos die viel beachteten Superstars, die in ihrer Bedeutung für unser modernes Weltbild Quarks und Co. weit in den Schatten stellen.“ Die jüngere Geschichte gibt ihm recht: In den vergangenen 30 Jahren gingen ganze vier Physik-Nobelpreise an die Neutrinoforschung.
Dabei sind diese Superstar-Teilchen ausgesprochen schwer zu fassen. Es liegt in ihrer Natur, kaum mit dem Rest des Universums zu interagieren: Sie besitzen keine elektrische Ladung und kein magnetisches Moment. Auch die Kernkräfte der Atome lassen Neutrinos kalt. Selbst ihre theoretische Schwerkraftwirkung wäre irrelevant klein. Damit bleibt von den vier Grundkräften, welche die Physik heute kennt, nur die schwache Wechselwirkung. Und die ist genau das: schwach.
Eine Vorahnung davon hatte schon der Vater des Neutrinos, Quantenphysik-Pionier Wolfgang Pauli. Er war um 1930 einem Rätsel auf der Spur: Beim Zerfall von Atomkernen schien ein Teil der Energie, die dabei frei wird, stets zu verschwinden. Dass Derartiges nicht passieren kann, ist jedoch einer der wichtigsten Grundsätze der Physik. Sein nach eigener Aussage verzweifelter Ausweg: ein noch unbekanntes Teilchen, das die fehlende Energie davonträgt.
Paulis Ausweg blieb eine reine Vermutung, bis das Neutrino Mitte der 1950er-Jahre erstmals in einem groß angelegten Experiment nachgewiesen wurde. Pauli erfuhr wenige Jahre vor seinem Tod per Telegramm von der Entdeckung. Seitdem brachte die aufwendige Erforschung der sogenannten Geisterteilchen immer neue Überraschungen ans Licht. „Erst seit knapp zwei Jahrzehnten wissen wir, dass Neutrinos – entgegen früheren Vorhersagen der Teilchenphysiker – überhaupt eine Ruhemasse besitzen“, berichtet Guido Drexlin vom KIT.
Dort, in Karlsruhe, wollen die Neutrinoforscher nun mit einem neuen Experiment dem noch unbekannten Wert der Neutrinomasse auf den Grund gehen. Im Juni 2018 konnte nach 15 Jahren Bauzeit endlich das KATRIN-Experiment in Betrieb gehen. Es untersucht den radioaktiven Zerfall einer bestimmten Variante des Elements Wasserstoff, genauer gesagt den Beta-Zerfall von Tritium. Damit setzt KATRIN genau dort an, wo Wolfgang Pauli vor fast 100 Jahren dem Neutrino erstmals auf die Spur kam.
Das Prinzip der Messung basiert auf der berühmten Formel E=mc² aus Albert Einsteins Spezieller Relativitätstheorie. Die gesuchte Neutrinomasse entspricht demnach dem „Energie-Fehlbetrag“ der Zerfallsprodukte – in diesem Fall Elektronen. Aus der Suche nach der Neutrinomasse wird so die genaue Vermessung der Elektronenenergie. Der Aufwand ist gewaltig: Für KATRIN wurde der größte Ultrahochvakuum-Behälter der Welt gebaut, in dem Spektrometer zum Einsatz kommen.
Guido Drexlin vom KIT kann die ersten Messungen kaum erwarten: „Der Weg war voller Herausforderungen. Jetzt stehen wir am Start und freuen uns auf spektakuläre und überraschende KATRIN-Resultate, in guter Tradition der Neutrinophysik der zurückliegenden Jahrzehnte.“
Neutrinophysiker gehen davon aus, dass jeder Quadratzentimeter der Erdoberfläche pro Sekunde von 100 Milliarden Neutrinos durchflogen wird.
Am anderen Ende der Welt bejubelte kürzlich schon das Team eines weiteren Neutrinoexperiments ein spektakuläres Messergebnis: Der IceCube-Detektor am Südpol registrierte ein außergewöhnlich energiereiches Neutrino aus den Tiefen des Weltalls. IceCube beobachtet in mehreren Kilometern Tiefe mit 5.000 hochempfindlichen Kameras das Dunkel des ewigen Eises. Dort registrieren sie Lichtblitze, die auf Zusammenstöße von Neutrinos mit Atomkernen im Eis hindeuten. Dabei können nämlich geladene Teilchen namens Myonen entstehen, die schneller fliegen als das vom Eis gebremste Licht. Den resultierenden „Überschallknall des Lichts“, die sogenannte Tscherenkow-Strahlung, fangen die Kameras ein.
Dass IceCube einen ganzen Kubikkilometer Antarktiseis überwacht, unterstreicht die Herausforderungen der Neutrinophysik. Neutrinos sind nämlich eigentlich alles andere als selten: Sie entstehen in unvorstellbarer Zahl bei Fusionsreaktionen in der Sonne sowie durch natürliche Radioaktivität auf der Erde. Neutrinophysiker gehen davon aus, dass jeder Quadratzentimeter der Erdoberfläche pro Sekunde von 100 Milliarden Neutrinos durchflogen wird.
Doch reaktionsfaul, wie sie sind, treten die Neutrinos dabei praktisch niemals in Erscheinung. Ihre überwältigende Mehrheit fliegt ohne jede Reaktion durch die gesamte Erde hindurch. Forscher können nur dann einige wenige von ihnen nachweisen, wenn sie riesige Mengen Reaktionsmasse mit hochsensiblen Instrumenten überwachen – wie zum Beispiel einen Kubikkilometer Eis mit 5.000 Spezialkameras.
Dabei geht es den IceCube-Forschern nicht nur um die Neutrinos von der Sonne. Sie sind auf der Jagd nach energiereicheren, aber viel selteneren Neutrinos von außerhalb des Sonnensystems. Kai Zuber von der Technischen Universität Dresden ist nicht an IceCube beteiligt, aber forscht seit Jahrzehnten an verschiedenen großen Neutrinoexperimenten. „Der Traum der Neutrino-Astrophysik ist eine Karte aller Neutrinoquellen am Himmel“, erklärt er. „Neutrinos sind, neben Gravitationswellen, die einzigen Botschafter, die ohne jede Ablenkung den direkten Weg von ihrer Quelle zu uns nehmen. Licht kann durch Gas oder Staub gestreut werden und geladene Teilchen von Magnetfeldern abgelenkt.“ Neutrinos zeigten hingegen direkt auf die Orte im All, an denen ultrahochenergetische Teilchen entstehen. Welche Orte das sind und was genau dort vor sich geht, wird immer noch lebhaft debattiert.
Eine solche Ultrahochenergie-Quelle zu identifizieren, könnte nun dank IceCube erstmals gelungen sein. Am 22. September 2017 löste die Station am Südpol einen Alarm aus, nachdem ein besonders energiereiches Neutrino beobachtet wurde. Daraufhin suchten ganze 16 Großgeräte am Himmel nach der möglichen Quelle, darunter vier Weltraumteleskope, das Cherenkov-Teleskop H.E.S.S. in Namibia und VLA, eines der größten Radioteleskope der Welt.
Die gemeinschaftliche Beobachtung lieferte tatsächlich eine wahrscheinliche Quelle: den Blazar TXS 0506+056. Dabei handelt es sich um die turbulente, stark aufgeheizte Umgebung des schwarzen Lochs im Zentrum einer mehrere Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie. „Das ist ein Meilen-stein für das junge Feld der Neutrino-Astronomie“, sagt Marek Kowalski, einer der beteiligten Forscher und Leiter der Neutrino-Astronomie am DESY. „Mehr als ein Jahrhundert nach der Entdeckung der kosmischen Strahlung durch Victor Hess im Jahr 1912 hat IceCube damit erstmals eine konkrete extragalaktische Quelle der energiereichen Teilchen geortet.“
Ist damit der ersehnte Durchbruch gelungen? Kai Zuber bleibt vorsichtig: „Ein einzelnes Ereignis kann immer ein Zufall gewesen sein. Doch wenn noch ein paar mehr Neutrinos entdeckt werden, deren Herkunft mit Signalen in anderen Teleskopen übereinstimmt, wird es richtig spannend.“
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