Porträt
Die Meisterin der Enzyme
Dörte Rother hat eine Vision: Kindern eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen. Dafür tüftelt die Jülicher Biotechnologin an nachhaltigen Verfahren, um Medikamente herzustellen. Das Prinzip ist von der Natur abgeguckt.
Dass ihre Besucherin einige Monate später den Chemie-Nobelpreis bekommen sollte, ahnte Dörte Rother nicht, als sie in ihrem Jülicher Büro mit der US-amerikanischen Forscherkollegin Frances Hamilton Arnold plauderte. Um Enzyme ging es in dem Gespräch, das sie am Rande einer Konferenz führten, um die Doppelrolle als Wissenschaftlerin und Mutter und um ihre Karrierewege. "Als ich dann erfuhr, dass sie 2018 den Nobelpreis bekommt", sagt Rother, "habe ich mich wahnsinnig gefreut. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine absolut würdige Nobelpreisträgerin!"
Die Forschung der US-Kollegin hat wichtige Grundlagen für Dörte Rothers eigene Entwicklungen hervorgebracht: Auch sie arbeitet mit Enzymen. Diese biologischen Katalysatoren beschleunigen chemische Reaktionen und ermöglichen unter anderem den Aufbau von Körperzellen und die Verdauung. Rothers Arbeitsgruppe am Forschungszentrum Jülich entwirft und optimiert neue Enzyme und entwickelt Produktionsverfahren. "Wenn Leute mich nach meiner Arbeit fragen, beschreibe ich, dass ich im Bereich der Biokatalyse forsche – also Enzyme oder ganze Zellen nutze, um aus optimalerweise nachwachsenden Rohstoffen Medikamente oder deren Bausteine herzustellen." So kann zum Beispiel aus Abfällen aus der Verarbeitung von Mais oder Zuckerrohr ein Wirkstoff für Hustensirup werden.
Günstige Rohstoffe im Reagenzglas in hochwertige Wirkstoffe umwandeln – das klingt ein bisschen nach Alchemie. Warum es trotzdem funktioniert, erläutert die 40-jährige Forscherin so: "Die Wertschöpfung liegt darin, dass wir von einfachen Substraten ausgehen und unsere Enzyme daraus in jedem Reaktionsschritt komplexere Moleküle herstellen." Rothers Spezialität sind sogenannte Enzymkaskaden: Dank einer Kombination von Enzymen folgen mehrere Reaktionen aufeinander. In mehreren Schritten kann so ein komplexer Wirkstoff aufgebaut werden. Mit ihren Mitarbeitern synthetisiert Dörte Rother viele sogenannte optisch aktive Substanzen. Diese nennt man so, da sie die Polarisationsrichtung des Lichts drehen können – wie etwa die links- oder rechtsdrehenden Milchsäuren im Joghurt. Man kann sie sich wie Bild und Spiegelbild vorstellen, und doch können sie je nach ihrer Form im Körper ganz unterschiedliche Wirkungen haben. Um als Medikamente angewendet zu werden, müssen sie hochrein vorliegen, also in nur einer der möglichen Molekülformen. "Hier hat die Biokatalyse einen großen Vorteil: Enzyme sind fast immer spezifischer als chemische Katalysatoren, die in der industriellen Herstellung von Medikamenten üblicherweise benutzt werden." Statt eines Stoffgemisches, das aufwendig aufgetrennt werden muss, produzieren Enzyme den Reinstoff. So werden bei der Produktion chemischer Substanzen Abfallprodukte vermieden. Zudem spart die Biokatalyse Energie, da Enzyme am besten unter natürlichen Bedingungen arbeiten. Sie brauchen weder hohe Temperaturen noch hohen Druck und sind biologisch abbaubar.
Die ökologischen Aspekte sind für Dörte Rother mehr als ein schöner Nebeneffekt. Wenn sie über ihre Forschung spricht, ist ihr die Begeisterung anzuhören. „Ich setzte mich für diese Technologie ein, weil ich von ihrer Sinnhaftigkeit absolut überzeugt bin", betont sie. "Als Wissenschaftler haben wir die Verantwortung, nachhaltige Forschung nicht erst dann zu starten, wenn es bereits brennt." Für die Umwelt konnte sich Dörte Rother schon immer begeistern. „Mit drei Jahren habe ich meinen Eltern verkündet, ich wolle ‚Billologin‘ werden", erzählt die Forscherin lachend. Inspiriert haben sie ihr Vater, von Beruf Biologie- und Erdkundelehrer, und ein Onkel, der als Meeresbiologe mit dem Forschungsschiff Polarstern in die Antarktis fuhr. Obwohl sie auch andere Fächer wie Medizin, Sportjournalismus oder Landschaftsarchitektur reizten, entschied sie sich, Biologie zu studieren. Heute bezeichnet sich die junge Professorin selbst als Biotechnologin. "Mich interessiert die technische Anwendung biologischer Aspekte", erklärt sie. Und sie mag es, mit Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen zusammenzuarbeiten; in ihrem Team ziehen Ingenieure, Chemiker und Biologen an einem Strang.
"Bei der Entwicklung klassischer Produktionsmethoden spielen Umweltaspekte allerdings bisher eine untergeordnete Rolle", sagt Rother. Und weil Enzyme teurer sind als viele herkömmliche Katalysatoren, kommen sie in industriellen Herstellungsverfahren kaum zum Einsatz. Das könnte sich bald ändern: "Wenn der gesellschaftliche Druck oder die ökologische Notwendigkeit groß genug werden, beginnt auch ein Umdenken bei der Technologie", hofft sie. "Würden nämlich die ökologischen Effekte als Kosten in den Prozess eingerechnet, dann wären viele enzymatische Prozesse schon heute wirtschaftlich konkurrenzfähig." Rothers Ziel ist es deshalb, biokatalytische Prozesse zusammen mit industriellen Partnern in den Produktionsmaßstab umzusetzen und Medikamente, Chemikalien oder Materialien wie Bioplastik umweltschonend herzustellen. "In diese Richtung müssen wir denken, wenn wir unseren Kindern und Enkeln ein lebenswertes Umfeld hinterlassen wollen." Diese Aspekte möchte Rother auch der nächsten Generation von Studierenden vermitteln, wenn sie an der RWTH Aachen lehrt. Derzeit arbeitet sie daran, Enzyme zu entwickeln, die sich durch Licht oder Temperatur an- und ausschalten lassen. "Ziel ist es, den Ablauf unserer Reaktionskaskaden mit mehreren Enzymen in einem einzigen Reaktor ganz präzise steuern zu können", erklärt sie.
Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt bekam sie etwa einen Starting Grant des Europäischen Forschungsrates und wird im Rahmen eines FET-Open-Projekts ("Future and Emerging Technologies") gefördert. Bei allen Auszeichnungen bleibt Rother bescheiden, als ihr persönliches Verdienst sieht sie die Auszeichnungen nicht. "Wenn man seiner Arbeit mit Begeisterung nachgeht, Ideen vorantreibt und kreativ ist, kann Neues entstehen – mit etwas Glück ein gutes Verfahren oder ein Produkt, für das man einen Preis bekommt", meint sie. Entscheidend sei das gute Arbeitsumfeld und ein Netzwerk mit Kollegen verschiedener Fachrichtungen.
Eine Zeit lang forschte Dörte Rother in Stockholm. Sie liebt die Natur Schwedens, beeindruckt hat sie aber auch das Arbeitsleben: "Kinder zu haben und weiter zu arbeiten ist in Skandinavien viel selbstverständlicher als bei uns", schildert die dreifache Mutter ihre Erfahrung. Das liege an der guten Kinderbetreuung, kinderfreundlich gestalteten Arbeitszeiten und auch daran, wie sich skandinavische Eltern die Aufgaben in einer Familie teilten. "Hier in Deutschland sehe ich eher das Problem, den zeitlichen Anforderungen einer Professur gewachsen zu sein, wenn man zudem Kinder großzieht. Man muss schon strukturiert arbeiten können und der Lebenspartner sollte mitziehen – was bei uns glücklicherweise der Fall ist."
Die Frage "Kind oder Karriere" hat sie sich nie gestellt. Das mag am Vorbild ihrer Eltern liegen, die auch mit Nachwuchs beide weiter gearbeitet haben. Dass sie selbst nach Schulschluss von einer Kinderfrau betreut wurde, empfindet Rother als Bereicherung. "So habe ich gelernt, mich auf verschiedene Charaktere einzulassen. Unsere 'Tante Anni' hatte zum Beispiel einen ganz anderen Erziehungsstil als meine Eltern." Heute freut sie sich zu sehen, wie ihre eigenen Kinder den Umgang mit verschiedenen Bezugspersonen und Kulturen lernen. "Letztes Jahr hatten wir als Au-pair eine junge Argentinierin in der Familie. Es war toll, wie sie und die Kinder miteinander umgegangen sind, obwohl sie am Anfang gar kein Deutsch sprach."
Ausgleich für ihren durchgetakteten Alltag findet Rother auf Reisen, beruflich oder privat. Wenn es die Zeit erlaubt, gehen sie und ihr Mann auf Radtouren. "Früher bin ich nie an einen Ort zweimal gefahren“, erzählt sie. "Jetzt haben wir an einem See in Schweden – wo sonst? – einen großartigen Ort für uns und unsere Freunde entdeckt." Auch der Sport, der ihr schon in der Jugend so wichtig war, ist fester Bestandteil ihrer Freizeit. "Mein sonntagmorgendliches Rudern ist mir heilig", betont sie. "Das hilft mir übrigens auch dabei, komplexe Anträge oder Manuskripte zu erstellen – drei Runden über den See und ich habe die Struktur im Kopf."
Weitere Forscherportraits
Leser:innenkommentare