Portrait
Die Allergologin mit Faible für den Kuhstall
Die Münchner Kinderärztin Erika von Mutius gehört zu den führenden Experten für Asthma und Allergien – und fand heraus, dass Kinder von Bauernhöfen besser gegen die Erkrankung gewappnet sind. Aus dieser Erkenntnis heraus will sie jetzt ein Medikament entwickeln, dass Asthmatiker therapieren könnte.
Im ersten Moment staunte Erika von Mutius bloß, als sie die Ergebnisse auf den Tisch bekam: 1989 war es, gerade ist die Berliner Mauer gefallen, und Kollegen von ihr maßen in Leipzig und Halle für eine gemeinsame Studie die Lungenfunktion und den Allergiestatus von Kindern. „Dort herrschte damals wegen der Industrie eine extreme Luftbelastung“, sagt die Kinderärztin und Allergologin – „und ich war überzeugt: Die Kinder dort haben viel mehr Probleme mit Allergien als bei uns im vergleichsweise sauberen München.“ Die Ergebnisse aber zeigten das exakte Gegenteil. Nach einem kurzen Staunen stürzte sich Erika von Mutius als junge Wissenschaftlerin in die Arbeit, um die Ursachen dafür zu erkunden: Sie hatte ihr Thema gefunden, das sie bis heute begleitet.
Wenn Erika von Mutius darüber erzählt, sitzt sie in Garmisch-Partenkirchen, der Blick geht zu den Alpen. Seit wenigen Monaten ist sie an der Ludwig-Maximilians-Universität emeritiert und konzentriert sich ganz auf ihre Forschung als Leiterin des Instituts für Asthma- und Allergieprävention bei Helmholtz Munich. Ihr Haus im Werdenfelser Land ist seit Generationen im Familienbesitz: Ihr Großvater war hier schon als Arzt tätig – „und ich habe mitbekommen, dass es für ihn nie nur ein Job war. Arzt zu sein, das war Teil des Lebens“, erzählt sie. Unter der Woche ist Erika von Mutius in ihrem Labor in München, am Wochenende in Garmisch-Partenkirchen. Und es hat sich längst gezeigt, dass sie es mit dem ärztlichen Ethos ebenso hält wie der Großvater.
Fast wäre es allerdings anders gekommen: Als Jugendliche wollte sie, begeistert von der Theatergruppe in ihrem Gymnasium, eigentlich Germanistik und Philosophie studieren. „Mit meiner Mutter habe ich dann einen Deal gemacht: Ich bewerbe mich erst für einen Medizin-Studienplatz, aber nur in München. Wenn es klappt, studiere ich Medizin. Wenn nicht, hätte ich machen können, was ich wollte.“ Erika von Mutius bekam den Platz, und die ersten Semester haderte sie furchtbar damit: „Ich wollte Dinge durchdenken und nicht nur auswendiglernen“, sagt sie im Rückblick – „aber dann im praktischen Jahr im Haunerschen Kinderspital in München hat es Klick gemacht.“ Auf einen Schlag hatte sie keine Motivationsprobleme mehr, sie lernte gleichermaßen die tragische Seite mit schwerkranken und sterbenden Kindern kennen und die fröhliche Seite mit kleinen Patienten voller Lebenslust, denen sie helfen kann.
Die Allergologie war damals noch ein junges Feld. „Es gab keinerlei Daten, keine epidemiologischen Studien in Deutschland“, erzählt sie. Der Bedarf indes war da: In die Kinderklinik schickten niedergelassene Ärzte reihenweise kleine Patienten mit Asthma, Neurodermitis, Lebensmittelallergien – mit allerhand Erkrankungen also, bei denen sie selbst nicht mehr weiterkamen. Und Erika von Mutius war dabei, als die Allergologie in Deutschland an Fahrt aufnahm: Sie las sich ein, bildete sich fort, ging zu erfahrenen Fachleuten in die USA, um ihnen über die Schulter zu schauen, und leitete schließlich als junge Wissenschaftlerin eine millionenschwere Studie in München, bei der es um die Auswirkungen von Luftschadstoffen im Stadt-Land-Vergleich ging. Es war das Jahr 1989, und nach dem Fall der Mauer holte sie Kollegen in Leipzig und Halle mit ins Boot, um auch dort die Luftqualität und die Erkrankungsraten zu messen – mit jenem Ergebnis, das sie staunen ließ.
Bald darauf gab es weitere Studien, die in das überraschende Muster passten: Kinder, in deren Elternhäusern mit Holz und Kohle geheizt wird, haben deutlich weniger Allergien. Und: Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, kennen so gut wie keinen Heuschnupfen.
Erika von Mutius entwickelte sich zu einer führenden Vertreterin einer Theorie, die als „Hygiene-Hypothese“ in die Medizingeschichte einging – oder, abgewandelt, als „Bauernhof-Hypothese“. Kurz zusammengefasst: Wachsen Kinder in einer keimarmen Umgebung auf, lerne das Immunsystem den Umgang mit Fremdstoffen nicht und werde gegen eigentlich harmlose Stoffe wie Allergene aktiv. Und der Umkehrschluss gilt auch, zeigte von Mutius mit ihrem Team in etlichen weiteren Studien: Kinder, die täglich im heimischen Kuhstall unterwegs sind, entwickeln später wesentlich weniger Asthma und Allergien – „der frühe Kontakt mit allen möglichen Erregern scheint eine antiallergische Wirkung zu haben“, sagt von Mutius.
Genau an dieser Stelle setzt ihre derzeitige Herausforderung an: Sie will ein Medikament entwickeln, das gegen Asthma und Allergien hilft, und setzt dafür auf ein ungewöhnliches Vorgehen: Sie nutzt den Staub aus einem Kuhstall, den sie auswäscht und in eine wässerige Lösung verwandelt. Die wird allergischen Mäusen in die Nase geträufelt – „und sie werden tatsächlich wieder gesund“, sagt die Forscherin.
Diese Erkenntnis auch in eine Therapie für Menschen zu überführen, das ist das große Projekt, an dem sie jetzt arbeitet. Ein Projekt, das den Kreis schließen könnte: vom Beginn der Karriere, zu dem die Wissenschaft noch fast nichts über die Hintergründe von Allergien wusste, bis zu ihrem Ruhestand mit einem Hoffnungsträger für viele kleine und große Patienten.
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