Portrait
Design-Moleküle gegen tückische Keime
Tuberkulose, Malaria oder Atemwegserkrankungen können tödliche Folgen haben. Die Chemikerin Anna Hirsch entwickelt neue Antibiotika gegen multiresistente Erreger. Für ihre Arbeit hat sie nun einen ERC Starting Grant der EU erhalten.
Noch immer fordern Infektionskrankheiten jedes Jahr mehrere Millionen Todesopfer weltweit. Verfügbare Antibiotika versagen immer häufiger bei multiresistenten Keimen. Zu diesen zählen beispielsweise Pseudomonas aeruginosa oder Staphylococcus aureus. Neue Wirkstoffe gegen solch tückische Bakterien sind gefordert. Dieser anspruchsvollen Suche widmet sich Anna K. H. Hirsch mit ihrem 18-köpfigen Team aus Chemikern, Pharmazeuten und Biochemikern seit 2017 als Leiterin der Abteilung "Wirkstoffdesign und Optimierung" am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung in Saarbrücken (HIPS).
"Es gibt spannende Wege zu neuen Antibiotika, die von der medizinalchemischen Seite noch gar nicht bearbeitet wurden", sagt Hirsch. Oft können schon spezielle kleine Moleküle für eine erfolgreiche Behandlung ausreichen. Sie wirken auf einzelne Schlüsselprozesse in den Bakterien. Hirsch will dazu mit neuen Wirkstoffen genau die Proteine hemmen, die für lebenswichtige Prozesse, wie zum Beispiel die Aufnahme von Vitaminen, bei der Bakterienvermehrung verantwortlich sind.
Die Chemikerin hat sich zum Ziel gesetzt, solche kleinen und dennoch hochwirksamen Moleküle systematisch zu entwerfen oder aufzuspüren, zu testen und im Labor herzustellen. Einerseits sind es völlig neue chemische Substanzen, andererseits aber auch bereits in Datenbanken verzeichnete Verbindungen, die eine antibakterielle Wirkung vermuten lassen. Landet die Saarbrücker Arbeitsgruppe bei ihrer Suche einen Treffer, "Hit" genannt, fängt die eigentliche Arbeit erst an. "Identifizieren, optimieren, synthetisieren, testen – bis zur ersten präklinischen Studie dauert es im Normalfall Jahre", sagt Hirsch. Durchhaltevermögen ist gefragt. Schon jetzt zeigen sich vielversprechende Resultate bei der Wirkstoffsuche gegen Tuberkulose und den auch hierzulande oft schon resistenten Krankhauskeim Pseudomonas aeruginosa ab. So gilt Hirsch heute als international anerkannte Expertin im rationalen Design von Anti-Infektiva und ihrer Methode, der dynamischen kombinatorischen Chemie.
Neues entdecken und Grenzen überschreiten – dieses Credo gilt nicht nur für ihre Forschung, sondern auch für ihren Werdegang. Nach ihrem Schulabschluss ergriff die Tochter einer deutsch-österreichischen Mutter und eines Vaters aus Luxemburg die Chance, an der britischen Universität Cambridge Chemie zu studieren. Sie war selbst verblüfft, dass sie das Auswahlgremium an der Eliteuniversität mit ihrer Bewerbung überzeugen konnte. "Da habe ich gar nicht lange überlegt", sagt Hirsch. Mit dieser Zeit zwischen Hörsaal, College, Labor, Orchesterprobe und Ruderstrecke legte sie die Grundlage für ihre heutige Arbeit, ergänzt mit einem Auslandsjahr am nicht minder renommierten Massachusetts Institute of Technology, diesmal im amerikanischen Cambridge.
Hirsch setzte ihren Weg durch die weltweit besten Forschungsstätten mit ihrer Promotion an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ETH fort. In der Gruppe ihres Doktorvaters François Diederich kristallisierte sich ihr Ansatz, strukturbasiert effizientere Wirkstoffe gegen Infektionskrankheiten zu finden, nach und nach heraus. Innovative Strategien gegen Malaria standen bereits in Zürich im Mittelpunkt. "Anna Hirsch begleitete ihre ausgezeichneten experimentellen Arbeiten jeweils mit scharfem und kritischem Denkvermögen", sagt Diederich über seine ehemalige Doktorandin." Dabei entwickelte sie wertvolle Kooperationen, die sie heute weiter ausbaut, um das Ziel der Translation der Laborergebnisse zu umsetzbaren Wirkstoffen konsequent zu erreichen." Auch für sich selbst sieht die Chemikerin ihre dreieinhalb Jahre in Zürich als sehr wichtige Zeit für ihre heutige Arbeit.
Bis Anna Hirsch ihre Arbeit am HIPS in Saarbrücken intensivieren sollte, folgten noch ein Postdoktorat bei Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn an der Universität Straßburg und eine Assistenzprofessur an der Reichsuniversität Groningen, welche zur Festanstellung als "Associate Professor" führte. "Dafür hat sie ihr originelles Methodenrepertoire in den vergangenen Jahren stark ausgeweitet und ist heute eine akademische Spitzenforscherin in Europa auf dem Gebiet der modernen Wirkstoffforschung", sagt Diederich. Mehrere Auszeichnungen bestätigen seine hohe Meinung. Erst jüngst erhielt das junge Forschertalent einen der begehrten ERC Starting Grants der Europäischen Union – 1,5 Millionen Euro für fünf Jahre intensive Wirkstoffsuche. "Dieser Grant ist extrem wichtig und ein Gütesiegel", sagt Hirsch. Sehr zufrieden mit der Ausstattung am HIPS, einem Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI), will sie die Förderung vor allem für mehr Personal nutzen. "Und es kann bei der Suche nach weiteren Drittmitteln nicht schaden", wagt sie einen Blick in die Zukunft.
Mit einer stetig wachsenden Arbeitsgruppe ist es kein Wunder, dass Hirsch selbst immer seltener im Labor steht. "Natürlich erfahre ich alle Resultate von den Experimenten und kann dann Tipps geben", sagt die leitende Forscherin. So auch zu einem neuen Ansatz, bei dem die Erreger nicht getötet, sondern ihrer Waffen gegen den Menschen beraubt werden. "Wenn man das erreicht, entfällt der Evolutionsdruck auf die Bakterien und man hofft, dass sich Resistenzen erst viel später oder gar nicht mehr bilden", erklärt sie. Doch noch stecke diese Strategie in den Kinderschuhen. An der essentiellen Bedeutung ihrer Forschung zweifelt sie jedenfalls nicht angesichts der aktuellen Problematik mit antimikrobieller Resistenz. "Das Engagement der Pharmaindustrie ist erschreckend gering", sagt sie mit dem Blick auf die zunehmenden Antibiotikaresistenzen weltweit. Daher werden neue Wege, wie Hirsch sie beschreitet, immer wichtiger.
Eines ihrer Ziele: Wirkstoffe mit neuen Wirkmechanismen weiter, möglichst bis zur Anwendung am Patienten zu entwickeln. Dazu kann sich Hirsch viele Wege vorstellen. Sei es im Rahmen eines gemeinnützigen Konsortiums, eines eigenen Unternehmens oder in Partnerschaft mit einer der wenigen Pharmafirmen, die noch Antibiotika entwickeln. Von den exzellenten Voraussetzungen dazu am HIPS in Saarbrücken ist sie überzeugt. "Und auch die Nähe zu meiner Heimat Luxemburg ist ein schöner Vorteil", sagt sie. Einzig das Rudern – nach dem Studium in Cambridge über viele Jahre und Orte mit Passion verfolgt – vermisst die zweifache Mutter. "Doch mit Radfahren und Schwimmen versuche ich neben Familie und Forschung noch so viel Sport zu machen wie möglich." So schöpft sie immer wieder Kraft, um mit ausgeklügelter Chemie die tückischen Erreger auch in Zukunft im Zaum zu halten.
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