Mobilität in Zeiten der Corona-Pandemie
„Der Nahverkehr darf nicht zum Verlierer der Coronakrise werden“
Mehr Homeoffice, kaum Reisen und Freizeitaktivitäten: Die Corona-Pandemie beeinflusst unsere Mobilität. Die Leiterin des DLR-Instituts für Verkehrsforschung Barbara Lenz erklärt, warum viele Menschen im Moment keine Verkehrsmittel teilen möchten – und was passieren muss, um diesen Trend zu stoppen.
Frau Lenz, die Coronakrise hat das Mobilitätsverhalten der Deutschen spürbar verändert. Lässt sich das auch wissenschaftlich belegen?
Wir konnten in einer Studie ganz klar zeigen, dass sich die Menschen in der aktuellen Krise mit Individualverkehrsmitteln wie dem Auto und dem Fahrrad deutlich wohler fühlen. Alle Verkehrsmittel, die man sich mit anderen teilen muss, rufen hingegen ein Unwohlsein bei vielen Bürgern hervor. Das gilt besonders für den Nah- und Fernverkehr und das Flugzeug, aber auch für Carsharing-Angebote. Und dieses Gefühl zeigt sich auch auf der Straße und in der Luft an leeren Bussen und Bahnen sowie Flugzeugen, die am Boden bleiben.
Gilt das für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen?
Tatsächlich gibt es Unterschiede nach Alter und Geschlecht, aber auch nach Stadt und Land: Frauen sehen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der aktuellen Situation kritischer als Männer. Auffällig ist außerdem, dass sich vor allem junge Menschen und Städter momentan am meisten ein Auto wünschen – also genau diejenigen, die im normalen Alltag häufig öffentliche Verkehrsmittel nutzen und stärker auf eine nachhaltige Mobilität setzen. Insgesamt vermisst ein Drittel der Menschen ohne Auto den Pkw in der Corona-Pandemie.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum gerade die jungen Städter so kritisch sind?
Diese Personengruppen nutzen den öffentlichen Verkehr normalerweise regelmäßig. Jedoch ist der ÖPNV schon zu Beginn der Krise „gebrandmarkt“ worden, weil es natürlich schwierig ist, in Bus und Bahn den nötigen Abstand zu halten. Da junge Städter mobiler sind als zum Beispiel Ältere oder Personen in ländlichen Gebieten, ist der Wunsch nach einem Verkehrsmittel, das sie mit gutem Gewissen und gutem Gefühl nutzen können, in dieser Situation durchaus nachvollziehbar.
Ist das Auto in der Coronakrise also der Gewinner unter den Verkehrsmitteln?
In der momentanen Situation sieht es so aus. Wir haben herausgefunden, dass sechs Prozent aller Personen ohne Auto darüber nachdenken, sich in der jetzigen Situation ein Auto zu kaufen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie das auch tun. Ob sich die Einstellung der Menschen langfristig ändert und das Auto auch längerfristig der Gewinner ist, lässt sich noch nicht sagen.
Um herauszufinden, ob sich dieser Trend verfestigt oder ob die Menschen bei weiteren Lockerungen wieder zu ihren alten Verhaltensmustern zurückkehren, planen wir deshalb eine zweite Befragung. Denn allein jetzt, wo erste Lockerungsmaßnahmen in Kraft getreten sind, sehen wir schon, dass die Mobilität wieder zunimmt. Wir werden daher dieselben Personen erneut befragen. So wollen wir untersuchen, ob sich das Mobilitätsverhalten der Deutschen dauerhaft ändert.
Barbara Lenz leitet seit dem Jahr 2007 das Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Die studierte Geografin und Germanistin erkundet, wie sich das menschliche Mobilitätsverhalten verändert. Ihre Forschungsthemen sind Mobilitätsverhalten, Umwelt und Nachhaltigkeit, Vernetzung der Verkehrsträger sowie Wechselwirkungen zwischen Verkehr und Wirtschaft.
Was bedeuten Ihre Beobachtungen im Hinblick auf den Klimaschutz, wenn der Individualverkehr zunimmt?
Auf der einen Seite gibt es natürlich die Befürchtung, der der ÖPNV zum Verlierer der Krise wird, falls diese Skepsis länger anhält. Das ist nicht nur ein psychologischer, sondern auch ein wirtschaftlicher Aspekt. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen schätzt, dass Verkehrsunternehmen bis zum Jahresende Verluste in Höhe von fünf bis sieben Milliarden Euro in Kauf nehmen müssen. Durch fehlende Einnahmen und ausbleibende Investitionen in neue Infrastrukturen verliert der Nahverkehr also eine Menge Geld – das kratzt auch an der Attraktivität des ÖPNV.
Auf der anderen Seite entsteht in vielen Städten ein größeres Bewusstsein dafür, wie wichtig der Rad- und der Fußverkehr für die Mobilität sind. Gerade in der Krise werden jetzt neue, extra breite Geh- und Radwege gebaut. Diese sogenannten „Popup-Infrastrukturen“ können schnell und kostengünstig eingerichtet werden und auch nach der Pandemie erhalten bleiben. So haben Städte und Kommunen relativ leicht die Möglichkeit, sichere, pandemietaugliche und nachhaltige Infrastrukturen zu schaffen. Und wir sehen ja auch, dass nicht nur das Auto, sondern auch das Fahrrad in der aktuellen Situation mehr genutzt wird als zuvor.
Welche langfristigen Folgen die Coronakrise für die Verkehrswende hat, lässt sich deshalb noch nicht abschätzen. Das werden wir weiter erforschen.
Was können Städte und Kommunen tun, damit der Klimaschutz nicht ins Hintertreffen gerät? Wie kann gerade der ÖPNV gestärkt werden?
Grundsätzlich kommen dafür erstmal die Maßnahmen infrage, die vorher schon auf der Hand lagen: Man kann die Takte erhöhen, die Bedienungszeiten erweitern und zusätzliche Linien einrichten – aber all das kostet viel Geld und kommt zu einer schwierigen Zeit, in der Busse und Bahnen nicht mehr so voll besetzt sein sollten wie zuvor. Nah- und Fernverkehrsunternehmen befinden sich also in einer Zwickmühle, weil sie ohne Einnahmen die notwendigen Investitionen nicht anstoßen können. Letztendlich hilft da nur Geld vom Staat. Dazu werden zwei Vorschläge diskutiert: eine Nutzerfinanzierung, bei der jeder Bürger zu Jahresbeginn eine Abgabe zahlt und anschließend alle Angebote des ÖPNV als Flatrate nutzen kann. Die andere Idee ist, den Nahverkehr kostenlos zu machen, doch auch das muss finanziert werden und würde den ÖPNV zu Spitzenzeiten an die Belastungsgrenze bringen. In der Diskussion um Rettungsmaßnahmen in Zeiten der Pandemie sollte nicht vergessen werden, dass auch am öffentlichen Verkehr viele Arbeitsplätze hängen.
Der Rückgang der Mobilität hängt auch damit zusammen, dass mehr Menschen nun von zu Hause arbeiten. Wie bewerten Sie das Arbeiten im Homeoffice?
Insgesamt sind die Menschen recht zufrieden damit. Für viele ist das ja eine ganz neue Erfahrung. Unsere Studie zeigt: Fast 60 Prozent derjenigen, die momentan von zu Hause arbeiten, würden dies auch nach der Krise gern häufiger tun, zumindest tageweise. Und viele Arbeitgeber merken nun, dass ihre Mitarbeiter zu Hause genauso effizient sind wie im Büro. Deshalb könnte ich mir gut vorstellen, dass die Coronakrise dazu beiträgt, das Arbeiten im Homeoffice grundsätzlich zu erleichtern.
Ihre abschließende Einschätzung: Wie kann die Mobilität nachhaltiger werden – auch über die Coronakrise hinaus?
Wir müssen motorisierte Individualverkehrsmittel wie das Auto weniger nutzen, gerade in der Stadt. Stattdessen sollten wir mehr auf nachhaltige Verkehrsmittel wie Busse und Bahnen setzen, aber auch auf das Fahrrad und die Füße. Diese Mobilitätsangebote müssen intelligent miteinander verknüpft und durch moderne Infrastrukturen gestärkt werden. Das wussten wir schon vor der Coronakrise, und das gilt weiterhin. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
Im Moment stimmt mich positiv, dass die Politik nach wie vor an der Transformation der Mobilität hin zu mehr Nachhaltigkeit festhält. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass wir die Verkehrswende trotzdem schaffen werden, auch wenn sich einige Maßnahmen aktuell durch die Corona-Pandemie verzögern. Die Erforschung der klimafreundlichen Mobilität muss natürlich weitergehen.
Das Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat in einer Studie untersucht, wie sich die Coronakrise auf das Mobilitätsverhalten der deutschen Bevölkerung auswirkt. Hierzu wurden 1.000 Personen zwischen 18 und 82 Jahren im Zeitraum vom 6. bis 10. April 2020 befragt. Die Forscher interessierten sich vor allem dafür, welche Verkehrsmittel die Befragten in der Krise nutzen und wie wohl sie sich dabei fühlten. Außerdem ermittelten sie, wie sich das Mobilitätsverhalten in den Lebensbereichen Einkaufen, Reisen, Arbeit und Freizeit durch die Pandemie geändert hat.
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