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Porträt

Der Mann und das Meer in seinem Laptop

Nils Christiansen. Bild: Helmholtz/David Marschalsky

Dem Geophysiker Nils Christiansen ist es wichtig, welchen ökologischen Fußabdruck er auf der Welt hinterlässt. Deswegen fragt er sich in seinem noch jungen Forschungsfeld: Welchen Einfluss haben Windparks im Meer auf dessen Ökosystem – und wie lassen sich eventuelle Auswirkungen abmildern?

Andere Menschen, die auf Borkum am Strand stehen und aufs Wasser schauen, sehen nichts als das Blau der Nordsee, Wellen und Weite. Sie atmen tief aus und machen Ferien. Nils Christiansens Blick aber sucht selbst im Urlaub jene Windräder, die sich klein und nur in Umrissen am Horizont abzeichnen. Wenn er auf Borkum steht und auf die Wellen schaut, denkt der 31-Jährige an Windgeschwindigkeiten, veränderte Strömungsverhältnisse in Luft und Wasser sowie an die Frage, was die rund 4500 Windräder, die der Mensch in die Nordsee gestellt hat, mit dem Ökosystem des Meeres machen.

Schon als Kind verbrachte Christiansen regelmäßig Zeit auf der Insel; mit der Familie ging es in den Ferien immer von Bielefeld hoch ans Wasser. Heute fährt er einmal im Jahr nach Borkum, die Nordsee aber begleitet ihn täglich bei seiner Arbeit am Institut für Küstensysteme des Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht. „Ich schaue mir an, was passiert, wenn man einen Windpark in den Ozean stellt“, versucht Christiansen, seine komplexe Arbeit zu erklären. „Am Laptop simuliere ich die Nordsee mit einem numerischen Modell und ergänze die Windparks mithilfe mathematischer Gleichungen. So kann ich untersuchen, wie sich die Ozeanströmungen durch Einflüsse in der Atmosphäre und unter Wasser verändern – quasi ein digitales Aquarium mit Windparks.“

Für die meisten Laien ist ein Windrad ein riesiges Ding, das im besten Fall möglichst effizient Strom produziert, mehr aber auch nicht. Doch Christiansen weiß aus seiner Forschung, wie dynamisch die großen Windturbinen mit der Umwelt interagieren und welche physikalischen Kräfte wirken: Der Wind schiebt den Ozean an, wodurch sich Wellen bilden. Das gilt vor allem für die Nordsee. Ein Windrad jedoch fängt einen Teil der Windenergie ab, „es nimmt Energie raus“, sagt Christiansen zum besseren Verständnis. „Hinter dem Windrad haben wir also weniger Energie, was sich wiederum auf die Meeresoberfläche auswirkt.“ Hinzu kommt noch ein anderer Effekt: Ein Windrad stellt für die Strömung im Wasser einen Widerstand dar, „wie wenn man seinen Fuß in einen Bachlauf stellt“, hilft Christiansen wieder beim Verstehen, „dann geht die Strömung außen rum, verwirbelt sich hinter dem Widerstand und wird langsamer.“

Letztlich hat ein Windpark in der Nordsee also zwei Effekte: Es verändert die Strömung der Luft und die Turbulenzen im Wasser. Beides wiederum beeinflusst die Nährstofftransporte im Meer, die Durchmischung der einzelnen Wasserschichten und damit auch die Produktivität des Phytoplanktons. So hängen Physik und Biologie direkt zusammen. „Das Ökosystem rund um eine einzelne Windturbine und einen ganzen Offshore-Park passt sich an die physikalischen Veränderungen an“, sagt Christiansen. „Super-komplex, aber auch super-interessant!“

Im weiteren Forschungsverlauf sei das Ziel, herauszufinden, wie sich diese Veränderungen auf die Nahrungskette auswirken, „aber so weit sind wir noch nicht“, sagt Christiansen, der in seiner Arbeit eng mit einer Kollegin aus der Ökosystemmodellierung kollaboriert. Erst seit einigen Jahren stehen Offshore-Parks als Forschungsgegenstand bei Wissenschaftler:innen im Fokus. Mit dem Ausbau Erneuerbarer Energien steigt jedoch der Bedarf an wissenschaftlichen Daten: Bislang hat Deutschland circa neun Gigawatt an Offshore-Windenergie jährlich in Betrieb – bis 2045 sollen es 70 Gigawatt werden.

Christiansen will die genauen Veränderungen durch Offshore-Parks besser verstehen, um den Einfluss des Menschen auf das Ökosystem Meer besser abschätzen zu können. So legt seine Forschung beispielsweise nahe, dass der Abstand der einzelnen Windturbinen innerhalb eines Offshore-Parks eine entscheide Rolle spielt: Stehen die einzelnen Räder weiter voneinander entfernt, ist der Gesamteffekt auf das umgebende Ökosystem kleiner, nimmt Christiansen an. Für neue Windparks in der Planung könnte dies bedeuten, dass man in Zukunft mit weniger Turbinen pro Windpark baut, dafür aber mit leistungsfähigeren.

Doch nicht nur beruflich, auch privat macht Christiansen sich Gedanken um seinen ökologischen Fußabdruck. Er sei ein Mensch, der die Konsequenz seines Handels stets und sehr genau durchdenke, sagt er. Seine Leitfrage sei auch im Privaten: Welche Auswirkungen hat das Ganze?

Schon vor Jahren habe er deswegen beschlossen, nur noch so wenig zu fliegen, wie nötig. Er ernährt sich vegetarisch. Und wenn das Wetter im Sommer heiter genug ist, wählt er das klimaneutralste Transportmittel und fährt mit dem Rad zur Arbeit ins Institut. „Wenn durch diese Entscheidungen mein persönlicher Fußabdruck kleiner wird, mache ich das gern“, sagt Christiansen, ohne dabei belehrend zu klingen.

Die Natur ist ihm wichtig, war sie schon immer. Schon als kleiner Junge habe sie ihn fasziniert. Auch die Begeisterung für Naturwissenschaften sei früh da gewesen, sagt er, „wobei ich mit sechs Jahren noch Profisportler werden wollte.“ Nach dem Abitur folgte Christiansen zunächst seiner Leidenschaft für Sport, doch aus dem Studium der Sportwissenschaften wurde nichts; eine Verletzung kam der Aufnahmeprüfung dazwischen. So landete Christiansen schließlich in der Geophysik, „weil das Fach meine Interessen an der Natur und meine Fähigkeiten verbindet. Außerdem ist es sehr anwendungsbezogen“, sagt er. Mit 26 hatte Christiansen sein Bachelor- und Masterstudium in Münster abgeschlossen und ging zur Promotion nach Hamburg. Für seine hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen im Rahmen der Dissertation wurde er im vergangenen Jahr mit dem Kurt-Hartwig-Siemers-Wissenschaftspreis und dem Helmholtz-Promotionspreis im Bereich Erde und Umwelt ausgezeichnet.

Beide Preise bedeuten ihm viel, sagt Christiansen. Er ist der erste aus seiner Familie, der studiert und auch noch promoviert hat, ein Bildungsaufsteiger. Seine Forscherkarriere steht noch am Anfang, aber der Start ist mehr als vielversprechend – dasselbe gilt für seinen Forschungsgegenstand, die Windparks in der Nordsee.

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