Portrait
Der Mann für Grenzbereiche
Der Dresdner Physiker Ulrich Schramm ist einer der Wegbereiter in der Entwicklung von unkonventionellen Teilchenbeschleunigern. Vor allem Laser faszinieren ihn. Gerade arbeitet er an einem Gerät, das die Standards verschieben wird.
Vor Ulrich Schramm liegt der Moment, auf den er sich schon den ganzen Tag freut. Gleich, wenn alle Termine geschafft sind, wird er von seinem Schreibtischstuhl aufstehen, aus dem Büro hinaus an die frische Luft gehen und gegenüber die Tür zum Labortrakt öffnen. Es sind nur 50 Meter, aber für Schramm ist das die schönste Strecke: Auf ihr verwandelt er sich vom Manager zum Forscher, vom Verwalter zum Entdecker. "Und das Beste ist", sagt Ulrich Schramm und lacht: "Das Labor ist gegen Strahlung abgeschirmt – sobald die Tür hinter mir zugeht, ist das Smartphone tot!"
Jeden Tag, so hat es sich der 51-jährige Physiker vorgenommen, will er eine Zeitlang in die Wissenschaft eintauchen. Es sind spannende, oft genug auch bahnbrechende Experimente, an denen er mit seinen Kollegen hinter den Labortüren arbeitet: Das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR) gehört mit seinem Institut für Strahlenphysik weltweit zu den führenden Einrichtungen auf diesem Gebiet.
Ulrich Schramm selbst, der das Institut gemeinsam mit Thomas Cowan leitet, konzentriert sich in seiner eigenen Forschung auf das Lasersystem DRACO. Das Kürzel steht, nicht eben naheliegend, für Dresden Laser Acceleration Source. "Jeder Physiker, der mit Großgeräten arbeitet, muss den Tierchen ja irgendeinen Namen geben", sagt Schramm. Mit dem speziellen Laser fokussieren die Wissenschaftler Licht auf einen winzigen Punkt, etwa auf eine Metallfolie, und beschleunigen dadurch Teilchen aus der Metallfolie heraus, so dass ein hochkonzentrierter Elektronen- oder Protonenstrahl entsteht. Es ist ein Teilchenbeschleuniger, der mit deutlich weniger Platz auskommt als viele herkömmliche Großgeräte. Deshalb gilt er als Hoffnungsträger für die Anwendung in der Medizin – und vor allem deshalb, weil die Teilchenstrahlung, etwa in der Strahlentherapie von Krebserkrankungen, schonender sein könnte als bislang etablierte Methoden. Bei dieser Therapie werden geladene Teilchen – zumeist Protonen, aber auch Kohlenstoffionen – mit hoher Energie auf den Tumor geschossen. Sie dringen tief ins Gewebe ein und verlieren den Großteil ihrer Energie in einer bestimmten Tiefe, sodass umliegendes Gewebe geschont wird.
"Bei unserem Laser kommt man schnell auf Zahlen, die man gar nicht glaubt", sagt Schramm: Viele Hundert Terawatt Leistung bündelt er, das ist deutlich mehr als die mittlere Leistung sämtlicher deutscher Atomkraftwerke. Zur Zeit seiner Entstehung war er einer der stärksten Laser auf der Welt. Seine Spitzenleistung bringt er für den billiardstel Teil einer Sekunde – der Moment, in dem er als Teilchenbeschleuniger fungiert.
"Ich bin schon seit meiner Diplomarbeit an nicht typischen Beschleunigeranlagen interessiert", sagt Ulrich Schramm. In Heidelberg studierte er Physik; dort waren es die Professoren Dietrich Habs und Dirk Schwalm, die ihn für die Strahlenphysik begeisterten. "Drei Monate war ich für ein Praktikum am CERN. Dort arbeiten Teams von 500 Leuten – das ist eine tolle Arbeit, aber ich wollte nicht nur eines der Rädchen in so einem großen Getriebe sein", sagt Schramm. Also beschäftigte er sich mit experimentellen Schwerionen-Speicherringen – Großgeräten, mit denen Ionen aus Beschleunigern gespeichert werden. Schon vor dem Diplom fing er beim Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik an, dort blieb er auch während seiner anschließenden Doktorarbeit. Darin befasste er sich, thematisch passend, mit Schwerionenstrahlen. "Ich hatte schon früh recht viel Einfluss auf die Messkampagnen an der Maschine", erinnert er sich. Die inhaltliche Arbeit am Beschleuniger, sagt Schramm heute, habe ihn erfüllt: "Mein Antrieb war es, Grenzen auszuloten."
Die Begeisterung für die Physik spürte er schon von Kindesbeinen an: Sein Vater ist Physiker, und Schramm bekam am Küchentisch jede Menge naturwissenschaftliche Diskussionen mit. Im Kinderzimmer bastelte er Elektro- und Mechanikbausätze, mit seinem Vater brütete er über Schiffs- und Flugzeugmodellen. Diese Prägung, schmunzelt Ulrich Schramm, habe ihre Wirkung nicht verfehlt: "Schon als ich in die fünfte Klasse ging, konnte ich mir nicht vorstellen, etwas anderes zu studieren als Physik!" Dass sein eigener Sohn, das älteste von drei Kindern, inzwischen selbst in München Physik studiert, passt perfekt in diese Generationenfolge. Wie ein Zufall wirkt dabei nicht einmal die Ortswahl, denn auch für Ulrich Schramm war München eine wichtige Station. "Damals wechselte Dietrich Habs an die Ludwig-Maximilians-Universität nach München und bot mir an, mitzukommen", erinnert sich Schramm an seinen akademischen Ziehvater. Es war das Jahr 1996, und eigentlich hatte er gerade überlegt, als Postdoc in die USA zu wechseln. "Das war damals der klassische Weg, um dann für eine Assistenzprofessur wieder zurückzukehren." Er übersprang die Phase und wurde direkt Assistenzprofessor in München mit einer Zehn-Jahres-Stelle. "So ein Angebot kriegt man nur einmal im Leben", sagt er, "und dann war auch noch das Thema unglaublich spannend."
Tatsächlich war Ulrich Schramm, ohne es zunächst zu ahnen, bei der Geburt eines neuen Forschungsfelds dabei. Innerhalb weniger Monate kam seine Gruppe in engen Kontakt zum Münchner Max-Planck-Institut für Quantenoptik. Die Physiker dort entwickelten zu der Zeit Teilchenbeschleuniger, die auf Lasern basierten – und brauchten für ihre Theorien handfeste Nachweismethoden. Damit konnte Schramm helfen; im Institut für Kernphysik, an dem er arbeitete, gab es die nötigen Instrumente. "Das war der Moment, in dem Beschleunigerphysik, Kernphysik und Laserphysik quasi zusammengewachsen sind", erinnert sich Schramm. Für die Wissenschaft folgte der Aufbruch in ein neues Feld – und für ihn selbst die endgültige Entwicklung vom Strahlenphysiker zum Experten für Hochleistungslaser.
Als er 2006 nach Dresden ans HZDR wechselte, das damals noch als Forschungszentrum Rossendorf firmierte, nahm er die neue Expertise mit. "Ich wusste recht wenig von der Forschung in Rossendorf", räumt er freimütig ein, "nur so viel, dass Professor Sauerbrey, der in dem Feld einer der Pioniere war, ein halbes Jahr vorher die wissenschaftliche Leitung übernommen hatte und das Ziel verfolgte, Dresden zum Zentrum für Hochleistungslaserphysik auszubauen." Schramm nahm das Angebot zum Wechsel an, zog mit seiner Familie in eine Altstadtwohnung und radelt seither, wenn es das Wetter zulässt, die 15 Kilometer raus ins Büro in den Vorort Rossendorf. Dass die ambitionierten Pläne realisiert wurden und das HZDR tatsächlich zu einem der Vorreiter etwa auf dem Feld der Medizinphysik geworden ist, daran hat auch Ulrich Schramm mitgewirkt, der seit 2011 Direktor des Instituts für Strahlenphysik ist.
Er schaut auf seinen Schreibtisch, auf dem sich Papierstapel türmen. Dieser Tisch, sagt er, sei das Gegenmodell zu seinem Labor: "Dort lege ich Wert auf akribische Ordnung, am Messplatz muss man sofort erkennen, wenn ein Detail anders ist als am Tag zuvor." Viele der Papiere auf seinem Schreibtisch haben mit dem Projekt zu tun, das ihn gemeinsam mit seinem Co-Direktor Thomas Cowan seit einigen Jahren umtreibt: Zusätzlich zu dem Dresdner Hochleistungslaserlabor errichtet das Institut in einer Außenstelle am Europäischen Freie- Elektronen-Laser XFEL in Hamburg ein ähnliches Labor. "Derzeit strahlen wir mit hochintensivem Laserlicht etwa auf eine Metallfolie, beschleunigen aus ihr dadurch die Elektronen heraus und gewinnen damit einen Protonenstrahl", erklärt Ulrich Schramm. "Wir können sehr gut beobachten, was vor der Folie und was hinter ihr geschieht, aber das Problem ist: Wir wissen nicht, was in der Folie selbst passiert." Um das zu ändern, soll jetzt der Hamburger XFEL helfen – der arbeitet mit Röntgenstrahlen, dank derer die Wissenschaftler in die Metallfolie hineinschauen können.
Ulrich Schramm fiebert jetzt dem Frühling entgegen. Da wird der neue Laser montiert; nach ausgiebigen Tests soll es dann zum Ende des Jahres mit den ersten tatsächlichen Experimenten losgehen. Und Schramm ist sich sicher: Schwere Türen, hinter denen das Smartphone keinen Empfang mehr hat, wird es auch dort geben.
Dieser Artikel ist in den Helmholtz-Perspektiven 02/2018 erschienen.
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