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Portrait

Der Kitt denkt mit

Foto: David Ausserhofer

Durch einen Zufall entdeckte Helmut Kettenmann vor über 30 Jahren, dass Gliazellen weit mehr sind als nur Bindegewebe im Gehirn. Seitdem forscht er intensiv an den Zellen, die auch an der Entstehung vieler Hirnkrankheiten beteiligt sind.

Heidelberg, 1980. Helmut Kettenmann ist noch Student und arbeitet an seiner Diplomarbeit, als er eine Entdeckung macht, die sein ganzes Berufsleben bestimmen soll. Er will am neurobiologischen Institut der Universität Nervenzellen untersuchen, die für die Motorik von Säugetieren zuständig sind. Aber irgendetwas stimmt nicht. Der junge Student kann bei den Versuchszellen kein elektrisches Signal messen. Nervenzellen übertragen Informationen mittels elektrischer Impulse - die als Strom messbar sind. Ist der Versuch also fehlgeschlagen? Die Antwort lautet: Nein, im Gegenteil, das Experiment ist eine kleine Sensation.

Die vermeintlichen Nervenzellen waren gar keine Nervenzellen, sondern Gliazellen. Aber die können offenbar ganz Unvermutetes. Durch Zufall findet Kettenmann heraus, dass Gliazellen entgegen damaliger Annahmen die Signale der Nervenzellen interpretieren können, ihre Funktion also über die des bloßen Füllgewebes hinausgeht. Zwar beschrieb schon Rudolf Virchow diesen Zellentyp Mitte des 19. Jahrhunderts, maß ihnen aber keine größere Bedeutung bei. Das spiegelt auch die Namensgebung wider: Gliazellen, abgeleitet aus dem griechischen Wort glia für "Leim", galten lange als funktionslose Stützzellen, die die prominenteren "grauen Zellen" lediglich zusammenhalten.

Kettenmann stieß bei seinen Untersuchungen auf Oligodendrozyten, einer von drei Gliazell-Typen. Oligodendrozyten bilden eine Substanz, die sich um die Nervenfortsätze legt und damit die Nervenleitung rasant beschleunigt. Gliazellen leiten den Strom allerdings nicht, deshalb hat Helmut Kettenmann auch kein Aktionspotential messen können. Warum hat vorher niemand die Bedeutung der Gliazellen erkannt? "Die Welt war damals sehr neurozentristisch", sagt Helmut Kettenmann, Hirnforscher und Neurobiologe, heute. "Alle haben im Prinzip gedacht, nur Neuronen spielten eine Rolle für die Funktion des Nervensystems." Niemand interessierte sich für die Gliazellen, es war ein Nischenthema.

Trotzdem reizten Kettenmann die unterschätzten Gliazellen. "Ich fand es ein innovatives Thema", sagt der Wissenschaftler. Für ihn war das etwas ganz Neues. Außerdem standen zum Zeitpunkt der Untersuchung erstmals Nachweistechniken zur Verfügung, die mit Hilfe von Antikörpern Gliazellen eindeutig identifizierbar machten. Seit seiner Entdeckung ließ Helmut Kettenmann das Thema nicht mehr los. Zwei Jahre nach Abschluss seines Studiums promovierte er ebenfalls zu Gliazellen und habilitierte schließlich 1987. Im selben Jahr gründete er das Forschungsjournal GLIA.

1990 startete Kettenmann, inzwischen arrivierter Naturwissenschaftler, den DFG-Schwerpunkt zur Funktion von Gliazellen. Im Jahr 1993 wechselte der Neurobiologe von Heidelberg ans Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch und baute dort die Neurowissenschaften wieder auf. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es keine Hirnforschung mehr am MDC. Zwar war das Zentrum Ende der 1920er Jahre ursprünglich als Hirnforschungsinstitut gegründet worden. Nach dem zweiten Weltkrieg verschwand mit den Fachleuten, die sich nach Kriegsende in den Westen absetzten, aber auch das von ihnen betriebene Forschungsgebiet. 1994 rief Helmut Kettenmann eine Tagungsreihe zur Gliazellforschung ins Leben. Seit seiner Zeit am MDC sammelte er auch emsig alte Originalliteratur zum Thema "Hirnforschung in Berlin". Mittlerweile ist die Sammlung, die sich in seinem Büro am MDC befindet, auf eine stattliche Zahl von über 1.000 Werken gewachsen. Im Jahr 2013 erschien die dritte Auflage seines Lehrbuchs über Glia.

Und die engagierte Arbeit des Forschers trägt Früchte: Die Aufmerksamkeit für die unterschätzten Zellen nimmt stetig zu und mit ihr die Erkenntnis, dass Gliazellen für die Funktion des Gehirns genauso wichtig sind, wie Neuronen. Gliazellen greifen, das weiß man heute, in jede Funktion des Nervensystems ein. "In den letzten zwanzig Jahren haben wir sehr viel über die Vielfältigkeit dieser Zellen gelernt", sagt Helmut Kettenmann. Gleichzeitig berge das Forschungsgebiet noch ein riesiges Potential für ungeahnte Entdeckungen. "Es ist wie das Bild eines Riesenpuzzles, das langsam immer klarer wird", sagt der Hirnforscher, "aber es fehlen noch viele Steine."

Gliazellen sind unter anderem bei Erkrankungen des Nervensystems von Bedeutung. Multipler Sklerose zum Beispiel liegt eine Degeneration von Oligodendrozyten zugrunde. Auch Alzheimer, Depressionen und Schizophrenie haben vermutlich eine gliale Komponente. "Es gibt wohl keine Krankheit, bei der Gliazellen nicht auch eine Rolle spielen", sagt Helmut Kettenmann. Die Zusammenhänge zu verstehen, sei allerdings nach wie vor eine große Herausforderung.

Im Labor steht der Forscher mittlerweile nicht mehr, diese Aufgabe übernimmt seine Forschungsgruppe. Er selbst arbeitet viel vom Schreibtisch aus. "Die meiste Zeit verbringe ich damit, Ergebnisse mit Kollegen zu diskutieren und Paper zu schreiben", sagt Helmut Kettenmann, "das ist eigentlich meine Haupttätigkeit." Aktuell untersuchen er und sein Team die Rolle von Mikrogliazellen bei der Entstehung von Hirntumoren. Mikrogliazellen sind die Immunzellen des Gehirns. Ihre Aufgabe ist es, das sensible Organ vor Krankheitserregern, Zellgiften und Verletzungen zu schützen. Die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Mikrogliazellen das Wachstum von Hirntumoren fördern können. Dazu schütten die Tumorzellen Substanzen aus, die die Gliazellen umprogrammieren. Die Forscher haben zum Teil aufgeklärt, wie dieser Mechanismus auf molekularer Ebene funktioniert. Das Verständnis aller Zusammenhänge eröffnet möglicherweise große Spielräume für therapeutische Maßnahmen. Ein Ansatz könnte sein, die Umprogrammierung der Gliazellen mithilfe von Antikörpern zu verhindern.

Neben der alltäglichen Forschungsarbeit laufen die Vorbereitungen für die nächste Gliazellforschungs-Konferenz. Diese hat sich von einem kleinen Treffen weniger Forscher zu einem weltweit beachteten Forschungskongress entwickelt. "Früher kamen zwanzig bis dreißig Leute zu einer Tagung", sagt Kettenmann. "Zum nächsten Treffen erwarten wir schon über 1.000 Teilnehmer." 

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