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Der Forscher am Klavier

Bilder: mona redshinestudio/Morphart Creation/Yoko Design/Shutterstock.com (Collage: Helmholtz)

Hermann von Helmholtz war leidenschaftlicher Pianist und brachte Kunst und Wissenschaft in seiner Forschung immer wieder zusammen. Seine Schriften dazu waren bahnbrechend und gelten bis heute als Standardwerke.

Es war Sommer, man schrieb das Jahr 1876 und Hermann von Helmholtz besuchte zusammen mit seiner Frau Anna die ersten Bayreuther Festspiele. Alles, was Rang und Namen hatte, weilte in der Stadt, „alle guten Bekannten zusammen, alle Künstler, Menzel, Meyerheim, Mackart, Lenbach“, schwärmt Anna in einem Brief an ihre Kinder. Später besuchten sie Richard Wagner persönlich in seinem Haus. „Liszt war da und viele liebe prächtige Leute“, schreibt Anna weiter. „Dann spielte Liszt über alle Begriffe schön.“ Hermann von Helmholtz selbst verehrte am meisten Beethoven und spielte zudem gerne Mozart am Klavier – aber zurückhaltend, wie er war, lieber allein und nicht vor Publikum. Er sang auch gern, wenngleich sein Gesang offenbar nicht herausragend war. „Jemand, der Musik liebt und fühlt, sie aber nicht machen kann, lobt fröhlich andere, die sie lieben, fühlen und machen“, kommentierte er bescheiden seine Möglichkeiten. Musik, Malerei, Poesie und Theater dienten Hermann von Helmholtz nicht nur zur Entspannung und Kontemplation – sie hatten für ihn einen höheren Stellenwert. Auf der Suche nach der Wahrheit sah er die Kunst gleichauf mit der Wissenschaft, obwohl die Kunst in seinen Augen auf andere Weise nach Erkenntnis strebe. Die künstlerische Darstellung sei sogar viel reicher, feiner und lebensvoller als die wissenschaftliche, sagte er 1892 bei einer Rede auf der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft zu Weimar. Und so ließ er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit von der Kunst inspirieren: Er versuchte schon früh, die Natur von Tönen und Farben und ihre physiologischen Empfindungen zu verstehen.

<p>"Helmholtz hat sehr genau gesehen, dass es zwischen den Zeichen und dem, wovon die Zeichen handeln, keiner Art von Ähnlichkeit bedarf.“</p><p></p>

Der Kunstwissenschaftler Robert Kudielka ist in seiner Forschung zum Impressionismus auf Helmholtz’ Arbeiten gestoßen. Er ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste und interessiert sich besonders für abstrakte Malerei und die visuelle Wahrnehmung. „Helmholtz hat sehr genau gesehen“, erklärt Robert Kudielka, „dass es zwischen den Zeichen und dem, wovon die Zeichen handeln, keiner Art von Ähnlichkeit bedarf. Das ist eine ganz große Schlüsseleinsicht, die in die Kunstgeschichte bis heute noch nicht ausreichend durchgedrungen ist.“ Besonders beeindruckt hat ihn Helmholtz’ Erkenntnis, dass wir mitnichten ein Abbild der Welt sehen, sondern vielmehr eine Interpretation von Zeichen, die unsere Augen physiologisch empfinden und die im Unbewussten zu einem visuellen Bild konstruiert werden. In seinem Vortrag „Optisches über Malerei“ wendet Hermann von Helmholtz diese Erkenntnisse auf die Kunst des Malens an. Das Bild des Malers sei kein reines Abbild des Objektes, schlussfolgerte er, „sondern die Übersetzung seines Eindrucks in eine andere Empfindungsskala, die einem anderen Grade der Erregbarkeit des beschauenden Auges angehört, bei welchem das Organ in seinen Antworten auf die Eindrücke der Außenwelt eine ganz andere Sprache spricht“. Robert Kudielka schwärmt von diesen Sätzen. Hermann von Helmholtz habe damit bewiesen, dass er die Abstraktheit der Kunst verstanden habe – gemeint ist hier nicht die abstrakte Kunst, sondern die Abstraktheit des Bildermachens. „Nämlich, wie sich die Zeichen der bildenden Kunst tatsächlich zu dem verhalten, was sie bezeichnen.“ Überdies enthalte Helmholtz’ Aussage eine große Bedeutung für die Kognitionswissenschaften. „Hinter Wahrnehmung steckt demnach mehr als bloß geometrische Optik, sondern sie stellt auch eine geistige Übersetzungsleistung dar“, sagt Robert Kudielka.

Günther Wess, der selbst auch Musiker ist,spielt hier an Helmholtz’ Flügel, der heute im Deutschen Museum in München steht. Bild: Günther Wess

Die Schriften von Hermann von Helmholtz haben auch Günther Wess in ihren Bann gezogen. Der Chemiker und Pharmazeut war bis 2018 wissenschaftlicher Leiter des Helmholtz Zentrums München – und ist ausgebildeter Kirchenmusiker. „Helmholtz erkannte im 19. Jahrhundert wahrscheinlich als Erster, dass das Gehirn Informationen aus den verschiedenen Sinnessystemen zusammensetzt und daraus unbewusst Rückschlüsse zieht“, sagt Günther Wess. Er stieß auf Zitate von Hermann von Helmholtz, als er Texte des amerikanischen Komponisten Charles Ives las. Der erwähnte darin immer wieder „Die Lehre von den Tonempfindungen“ aus der Feder von Hermann von Helmholtz. Und so tauchte Günther Wess immer tiefer in Helmholtz’ Forschung auf diesem Gebiet ein und verfasste darüber sogar ein Buch. „Helmholtz spielte täglich mindestens eine Stunde Klavier, kannte die wesentlichen musikalischen Entwicklungen, Kompositionen und deren Komponisten, war vertraut mit der Harmonielehre und der Musiktheorie. Er hatte deshalb ein sehr geschultes Ohr und eine hohe Sensibilität für Klänge.“ „Die Lehre von den Tonempfindungen“ publizierte Helmholtz im Jahr 1863, ein 600 Seiten umfassendes Werk, zu dem es aus Sicht von Günther Wess bis zum heutigen Tag kein vergleichbares Schriftstück gibt. Die Arbeit behandelt die physikalischen Grundlagen von Tönen und Klängen, die Physiologie des Ohres und die Hör- und Empfindungsvorgänge sowie philosophische Fragen der Ästhetik und Tonalität. „Er hat damit zukunftsweisende Entwicklungen angestoßen, die bis heute nachwirken“, erklärt Günther Wess und verweist auf die Komponisten der Neuen Musik, die neue Klänge und Geräusche und ungewöhnlich verwendete Musikinstrumente in ihre Musik integrieren und zu komplexen Klanggebilden zusammensetzen – von Ferruccio Busoni, Karlheinz Stockhausen, John Cage bis zu Spektralmusikern wie Gérard Grisey. Bei der Spektralmusik stehen der Klang und seine physikalische Entstehung im Vordergrund – Melodien spielen kaum mehr eine Rolle. Für Günther Wess ist beeindruckend, dass Hermann von Helmholtz, der für diese Entwicklungen gewissermaßen den Boden bereitete, stets offen für Veränderungen blieb, obwohl er persönlich dem Schönheitsideal der Klassik und dem Prinzip einer klassischen Tonalität verhaftet war. „Er hat stets betont, dass die Musik an einem musikalischen Regelwerk nicht festkleben dürfe. Hermann von Helmholtz war aufgeschlossen für neue Entwicklungen und suchte fortwährend Neues.“

Die Fotografin Herlinde Koelbl im Gespräch mit dem Psychiater Leonhard Schilbach im Rahmen von Sibylle Anderls Projekt „WissensARTen“. Bild: Sibylle Anderl

Was aber bedeutet Helmholtz’ Auseinandersetzung mit der Kunst für das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft – können beide Disziplinen zusammenfinden? Der Berliner Kunstwissenschaftler Robert Kudielka ist da eher zurückhaltend. „Die Wissenschaft sucht empirische Gewissheiten und ist fortschrittsorientiert. Kunst stellt eine Gegeninstanz dar. Nicht im kritischen Sinne, sondern sie führt etwas vor, was ihrer Zeit fehlt.“ Was Kunst und Wissenschaft außerdem trenne, sei ihre unterschiedliche Wahrnehmung. Die subjektive Wahrnehmung des Menschen gegenüber der objektivierten Wahrnehmung in der Naturwissenschaft – das sei die wesentliche Reibungsstelle.

„Und sich da wieder an Hermann von Helmholtz und seine Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung zu erinnern, ist durchaus interessant.“ Die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Kunst beschäftigt auch Sibylle Anderl. Die studierte Philosophin, promovierte Astrophysikerin und Journalistin hatte ursprünglich überlegt, sich für ein Kunststudium zu bewerben: Ihr Vater ist Künstler und Sibylle Anderl zeichnet für ihr Leben gern. Doch die ebenso große Liebe zur Mathematik verschlug sie schließlich zu den Naturwissenschaften. Vor sechs Jahren startete sie ein besonderes Experiment: Sie brachte vier Paare von Naturwissenschaftlern und bildenden Künstlern zusammen, die sich aus der je eigenen Perspektive mit einem gemeinsamen Thema beschäftigten. „WissensARTen“ nannte sie das Projekt, in dem die Beteiligten sich den Themen Klang, Leben, Wolken und der menschlichen Psychologie näherten. Sibylle Anderl betont, dass Künstler frei aus der wahrnehmbaren Welt schöpfen und diese Vielfalt ganz individuell ausdrücken können. „Wissenschaftler hingegen kategorisieren ihre Beobachtungen, um zu verallgemeinern.“ Aber genau deshalb gibt es aus ihrer Sicht gute Gründe, dass Kunst und Wissenschaft zusammenkommen. „Die Kunst kann der Wissenschaft helfen, einen differenzierten und aufgeklärten Blick auf die eigene, methodisch eingeschränkte Disziplin zu entwickeln“, sagt sie. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Künstler können sich auch von Wissenschaft inspirieren lassen. 

„Die Philosophie bietet einen gemeinsamen Boden, auf dem sich die Akteure aus Kunst und Wissenschaft austauschen können."

Eine wichtige Rolle für das gegenseitige Verstehen spielt für Sibylle Anderl die Sprache. Denn in der Kommunikation kommt es beiderseits häufig zu Missverständnissen, weil Begriffe unterschiedlich verwendet werden, einen anderen Kontext haben und verschiedene Assoziationen wecken. In ihrem Projekt WissensARTen ließ sie deshalb jedes ­Wissen­­schaftler-Künstler-Paar ohne Moderation und Anleitung aufeinandertreffen. Alle Beteiligten fürchte­ten zunächst, dass sie sich wenig oder gar nichts zu sagen hätten. „Doch nach anfänglichem Hadern ging es los, dann kam die Diskussion ins Rollen, bei allen sehr intensiv, sodass sich die Paare am Ende kaum mehr trennen ließen“, sagt die Journalistin. Besonders interessant findet Sibylle Anderl den Umstand, dass sich die Gespräche zwischen den Teilnehmern sehr schnell auf eine philosophische Ebene verlagerten. Die Philosophie bietet hier also einen gemeinsamen Boden, auf dem sich die Akteure aus Kunst und Wissenschaft austauschen können. Und so kann Kommuni­kation auf Augenhöhe stattfinden. Das wusste auch Hermann von Helmholtz. Schon in den Salons, die seine Frau Anna ausrichtete, kamen Künstler und Wissen­schaftler zusammen. Denn kommunikativer Austausch verhilft zu einem differenzierten Bild von der Welt.

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