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Portrait

Der Datenjongleur

Bild: Astrid Eckert / TUM

Fabian Theis kommt mithilfe von künstlicher Intelligenz den Geheimnissen menschlicher Zellen auf die Spur. In der Corona-Pandemie konnte er mithelfen zu entschlüsseln, wie die Viren im Körper wirken. 

Die Isomatte hat er noch nicht weggeräumt, sie liegt ein paar Schritte vom Schreibtisch entfernt auf dem Boden. „Das ist noch ein Überbleibsel vom Urlaub“, sagt Fabian Theis: „Wir sind mit den Kindern entlang der Donau geradelt bis in den Schwarzwald.“ Der Zelturlaub bedeutete ein paar Tage Entschleunigung für den Mathematiker und Physiker, der in seiner Forschung üblicherweise ein rasantes Tempo anschlägt: Mit 26 Jahren promovierte er in Physik, ein Jahr später in Informatik, mit 32 Jahren habilitierte er sich und jetzt, mit 44 Jahren, ist er Direktor des Instituts für Computational Biology am Helmholtz Zentrum München und Professor für Biomathematik an der TU München. Vielleicht war es angesichts dieses rasanten Tempos auch der Wunsch zu entschleunigen, der ihn dazu gebracht hat, das Wohnhaus für seine Familie ganz aus Holz bauen zu lassen. 

Leibniz-Preis 2023

Der Datenwissenschaftler Fabian Theis erhält den wichtigsten deutschen Wissenschaftspreis. Mehr dazu hier.

In Garching steht es, vor den Toren Münchens also und in strategisch günstiger Lage zwischen seinen Aufgaben am Zentrum und der Technischen Universität. „Wir wollten, dass man das Holz auch sieht“, sagt Fabian Theis über die großen Balken, die er mit seiner Frau und den vier Kindern überall im Haus im Blick hat. Das Holz, dieses bodenständige Material, steht ganz im Gegensatz zu dem Hightech-Dreiklang aus künstlicher Intelligenz, Machine- und Deep-Learning-Methoden, der in seiner Forschung dominiert.

In seiner Arbeitsgruppe hat Fabian Theis neben weiteren Informatikern und Physikern auch jede Menge Biologen um sich geschart. Das Team arbeitet in einem hochkomplexen Grenzbereich: Die Forscher sammeln viele Millionen Informationen aus menschlichen Zellen, die sie mithilfe von Algorithmen untersuchen. Wie interagieren die Zellen und was geht bei Krankheiten auf der zellulären Ebene schief? Das Besondere dabei: Diese Untersuchungen werden auf dem Niveau von Einzelzellen durchführt – zuvor wurde bei der Zellanalyse mit Durchschnittswerten von mehreren Zellen gearbeitet. „Früher hatte man einen Smoothie“, so illustriert Fabian Theis den Unterschied zwischen beiden Ansätzen, „jetzt sehen wir den Obstsalat, aus dem er gemacht wurde.“ Die Technik, die den ungleich präziseren Blick ermöglicht, nennt sich Einzelzellsequenzierung. Vor rund fünf Jahren haben Forscher es geschafft, die biologischen Grundlagen von fünf Zellen so detailliert aufzuschlüsseln; heute klappt das wegen verbesserter Technik problemlos mit einer Million Zellen. In jeder von ihnen werden 20.000 Gene analysiert – „ein ganz klarer Fall von Big Data“, sagt Fabian Theis.

Eine Nebenwirkung hat diese Arbeit an der Spitze des technisch Möglichen für ihn: Ständig wird er zu Vorträgen eingeladen, in denen er über seine Arbeit erzählen soll – oft vor Wissenschaftlern, aber auch vor Laien, die sich auf einen Blick hinter die Kulissen der Forschung freuen. Er steht dann auf der Bühne, schlank und hoch aufgeschossen, die Haare lockigzerzaust, und versucht, die abstrakten Begriffe aus der Forschung mit Augenzwinkern zu erklären. „Big Data“, sagt er zum Beispiel gern, „ist alles, was eine Excel-Tabelle sprengt.“ Ein wenig ist ihm dabei sein bayerischer Zungenschlag anzuhören; er ist in der Oberpfalz aufgewachsen. „Dabei habe ich eigentlich gar keinen starken Dialekt“, findet er selbst – „meine Kinder lachen mich jedenfalls immer aus, wenn ich versuche, ein bayerisches Lied zu singen!“

Jetzt, in der Corona-Zeit, zeigte sich, dass Fabian Theis’ Methoden auch beim Kampf gegen die Pandemie helfen. Denn schon lange ist er an dem internationalen Projekt des „Human Cell Atlas“ beteiligt, in dem alle menschlichen Zellen und Gewebe kartiert werden sollen – und sein Team ist darin ausgerechnet für die Lunge zuständig. „Im Februar ist uns klar geworden: Wir haben dadurch eine großartige Basis, um an der Corona-Forschung mitzuwirken“, erzählt Fabian Theis. Seine Arbeitsgruppe untersuchte, warum das Virus nicht alle Menschen gleich trifft – warum also Männer anfälliger sind als Frauen, warum mehr Raucher erkranken und weniger Kinder. Die Forscher schauten sich dazu die Datensätze verschiedener Patienten an und konnten tatsächlich nur aufgrund der Datenanalyse eine mögliche molekulare Erklärung dafür finden. „Die Gene, die den Bauplan für zwei bestimmte Proteine enthalten, sind bei den betroffenen Personen aktiver. Eines davon ist ein Rezeptor, an dem sich SARS-CoV-2 andockt. Dadurch kann das Virus leichter in die Zellen eindringen und es kommt eher zu einer Infektion.“

Fabian Theis ist Vater von zwei Mädchen und zwei Jungen. Die jüngste Tochter kam im März 2020 zur Welt. Bild: privat

Dass Fabian Theis mit seiner Forschung so nah an der Medizin landen würde, war am Anfang denkbar unwahrscheinlich. „Ich war das schwarze Schaf in unserer Familie“, sagt er und lacht: In der Nähe von Amberg im Norden Bayerns wuchs er mit zwei Geschwistern auf, die Eltern sind beide Ärzte, seine Schwester hat die elterliche Praxis inzwischen übernommen, sein Bruder ist Psychotherapeut. Nur Fabian interessierte sich immer eher für die Mathematik als für die Medizin. Zur Erstkommunion in der dritten Klasse wünschte er sich einen Computer; zu einer Zeit, als Rechner in den Haushalten noch kaum verbreitet waren. „Ich stellte dann aber schnell fest, dass man mit dem Gerät fast nichts machen konnte“, sagt Fabian Theis heute, „also habe ich mich selbst am Programmieren versucht.“

Von dem Moment an waren es noch etwas mehr als zehn Jahre bis zu seinem Studienbeginn. Für Physik und Mathematik schrieb er sich in Regensburg ein, das war von seiner Heimat aus die nächstgelegene Universität. Während der Physik-Doktorarbeit besuchte er im spanischen Granada zum ersten Mal eine wissenschaftliche Konferenz. „Ich hatte keine Ahnung, wie es da so läuft, und war total nervös. Mein Doktorvater hat mich schließlich seinem spanischen Kooperationspartner vorgestellt“, sagt Fabian Theis. Er muss, trotz aller rückblickenden Bescheidenheit, Eindruck hinterlassen haben: Nur ein Jahr nach seiner Physik-Promotion in Regensburg gab er in Granada seine Doktorarbeit in Informatik ab. Er forschte dann noch an zwei japanischen Universitäten und in den USA, bevor er schließlich zum Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbst-organisation nach Göttingen und schließlich zum Helmholtz Zentrum München ging. 

Aber wie kam er ausgerechnet zur Medizin, wo doch Big Data so ein breites Thema ist? Fabian Theis lacht. „Ja, ich war tatsächlich auch schon an einem Projekt beteiligt, wo man versucht hat nachzuvollziehen, wie Dollarscheine um die Welt reisen. Und man kann auch Warenströme zwischen Ländern und Ähnliches mit Big Data analysieren.“ Aber an der Biologie reizte ihn etwas anderes: die Unvorhersehbarkeit. „Wenn ich einen Ball werfe, kann ich für seine Flugkurve in der Physik eine exakte Formel aufstellen. Bei einer biologischen Fragestellung klappt eine solche Modellierung nie.“

Und noch eins fasziniert ihn an der medizinnahen Forschung: die schiere Geschwindigkeit. „So ein schnelles Gebiet habe ich noch nie kennengelernt“, sagt Fabian Theis, „nicht einmal die Computertechnik macht so rasante Fortschritte.“ Er erinnert an das Humangenomprojekt, wo es mehr als ein Jahrzehnt dauerte und etliche Millionen Dollar kostete, um das menschliche Erbgut zu entschlüsseln – „heute geht es in einer Woche und für ein paar Hundert Dollar“. Auf seine Forschung, in der er auf Genanalysen angewiesen ist, hat das gewaltige Auswirkungen. Wenn Fabian Theis darüber spricht, klingt er allerdings keinesfalls eingeschüchtert angesichts des rasenden Tempos der Veränderung. Im Gegenteil: Er erzählt mit hörbarer Faszination. „Für uns ist das richtig cool“, ruft er. 

Jeder weitere technische Fortschritt ist für ihn wie eine Taschenlampe, mit der er durch seine Big-Data-Methoden in immer neue und unerforschte Winkel der Zellen hineinleuchten kann.

Die Initiative ELLIS (European Laboratory)

Die Initiative ELLIS (European Laboratory for Learning and Intelligent Systems) will ein vielfältiges europäisches Netzwerk schaffen, das Forschungsexzellenz fördert und Durchbrüche in der KI vorantreibt. Anstatt ein virtuelles Netzwerk zwischen den Institutionen aufzubauen, zielt ELLIS darauf ab, neue Arbeitsumgebungen für Forschende zu schaffen und ihnen zu ermöglichen, Spitzenforschung mit Start-ups und Anwendung in der Industrie zu kombinieren.

Im September 2020 wurde ELLIS offiziell gestartet – mit 30 Einheiten an Forschungseinrichtungen in ganz Europa, darunter auch am Helmholtz Zentrum München und der TU München. Fabian Theis ist Co-Direktor am Standort München.

https://ellis.eu

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