Treibhausgase
Das Einmaleins der Klimaforscher
Welches Land stößt wie viele Treibhausgase aus? Beim Weltklimagipfel in Lima wird wieder hart über die Verringerung der jährlichen Emmissionsraten verhandelt. Doch woher kommen die Zahlen? Wer überprüft sie? Ein Recherchebericht von Philipp Wurm
Anfang Dezember ist es wieder so weit: Die Staats- und Regierungschefs treffen sich in Lima zum Weltklimagipfel. Es wird erneut darum gehen, verbindliche Ziele für die Verringerung des Ausstoßes von Klimagasen zu verhandeln. Dabei müssen zunächst die Karten auf den Tisch gelegt werden: Welchen Land stößt wie viel CO2 und andere Klimagase aus? Wer verringert seine Emissionen? Wer hält vereinbarte Ziele ein und wer nicht? Es folgen harte Verhandlungen, in denen es auch um Milliarden-Zahlungen geht. Doch woher stammen die Zahlen um die sich alles dreht? Wer kontrolliert sie?
Ich setze mich mit dem Umweltbundesamt in Verbindung, laut Wikipedia "zentrale Umweltbehörde der Bundesrepublik Deutschland", was gleich vielversprechend klingt. Tatsächlich werde ich dort zu einem Experten durchgestellt, der sich Tag für Tag mit der Berechnung klimaschädlicher Gase beschäftigt. Ein Treffer ins Schwarze, der mir die Furcht nimmt, bei Klimaforschern handele es sich um einen Zirkel von Geheimräten, die ihre Arbeit machen, ohne auch nur die geringsten Einblicke zu gewähren - weil sie Zahlen manipulieren oder andere Missstände zu verbergen haben. Verschwörungstheorien sind ja derzeit schwer angesagt. Stattdessen ist der Mann, den ich am Hörer habe, gesprächig und hilfsbereit. Allem Anschein nach freut er sich, dass überhaupt mal jemand wissen will, wie man Treibhausgas-Emissionen errechnet. Michael Strogies ist Fachgebietsleiter "Emissionssituation" im Umweltbundesamt - und als solcher einer der Hauptautoren der "Berichterstattung unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und dem Kyoto-Protokoll". Eine Akte, die vom Umweltbundesamt jährlich herausgegeben wird und alle in Deutschland erfassten Emissionen zusammenträgt. Vom CO2-Ausstoß der Braunkohle-Kraftwerke bis zur Methanabsonderung von Maultieren, auf knapp 1000 Seiten. Denselben Bericht müssen auch alle anderen Industriestaaten verfassen. Der Weltklimarat (IPCC) begutachtet diese Datensammlungen und wertet sie aus.
Der Weltklimarat hat auch die mathematischen Methoden entwickelt, die zu den Emissionsdaten führen. An ihnen orientieren sich die zur Abgabe verpflichteten Staaten, damit die Datenblöcke vergleichbar sind. "In Deutschland koordiniert das Umweltbundesamt den gesamten Prozess der Emissionsermittlung", erklärt Strogies. Er schickt mir eine Liste mit Links, die mich zu den vom Weltklimarat auferlegten Richtlinien führen, sie heißen "IPCC Guidelines für National Greenhouse Gas Inventories" oder "IPCC Good Practice Guidance".
Einen Tag lang durchforste ich die dicht bedruckten Papiere, die vor mir schon unzählige Beamte gelesen haben, angewiesen von ihren Regierungen, Emissionsberichte zu verfassen. Nach meinem autodidaktischen Crash-Kurs habe ich etwas mehr verstanden. Zum Beispiel dass zehn Stoffe als Treibhausgase aufgeführt werden müssen, darunter etwa Kohlendioxid, Methan und Fluorkohlenwasserstoffe, Lachgas oder Schwefelhexafluorid. Und dass man die Emissionsdaten in mehrere Kapitel untergliedert, benannt nach den Quellen: darunter zum Beispiel Energie, Industrieprozesse, Landwirtschaft oder Abfall. Kaum ein Gesellschaftsbereich, der nicht dem Klima schadet. In meinem Kopfkino entstehen apokalyptische Bilder. Die Rauchschwaden der Fabrikschlote, die Dämpfe aus den Auspuffrohren der Autos, die Ausdünstungen der Müllverbrennungsanlagen, alles vermengt sich zu einer großen, wabernden Giftwolke. Was natürlich Unsinn ist: Die Emissionen, die in die Atmosphäre eingehen, sind nicht sichtbar. Doch die Daten, so wissenschaftlich fundiert sie auch sein mögen, schüren nun einmal emotionale Fantasien.
Ob Autoverkehr oder Zementindustrie. Für jede dieser Quellen müssen die Berichterstatter ein ausdifferenziertes Datenwerk zusammenstellen. Aus den darin enthaltenen Informationen ermitteln sie die Faktoren für jene Rechenformel, die das Einmaleins der weltweiten Emissionsberechnung ist. Man multipliziert die Aktivitätsrate einer Quelle mit deren Emissionsfaktor. Heraus kommt die Emissionsmenge. Als ich die Gleichung in den "IPCC Guidelines" entdecke, kann ich mir darunter so viel vorstellen wie ein Außerirdischer. Also rufe ich ein weiteres Mal beim Umweltbundesamt an. Ein Kollege von Herr Strogies verspricht, der Theorie etwas Leben einzuhauchen. Tags darauf trudelt eine Mail mit einem Beispiel aus dem deutschen Straßenverkehr ein.
Es geht um den CO2-Ausstoß von Kraftfahrzeugen im Jahr 2012, die mit fossilem Diesel betrieben werden. So wird er berechnet: Die Aktivitätsrate ergibt sich aus den Terajoule verbrannten Dieselkraftstoffs auf hiesigen Straßen - knapp 500 000. Der Emissionsfaktor wird festgelegt durch die bei Dieselmotoren freigesetzte Kilogramm-Menge von CO2 pro Terajoule Kraftstoff - das sind 74 000. Aus der Multiplikation beider Werte resultiert die Emissionsmenge, die Dieselautos verursachen: etwa 37 Millionen Tonnen.
Addiert mit den Ausstößen anderer Fahrzeugtypen ergibt sich die Gesamtmenge der CO2-Emissionen im Straßenverkehr. Im Jahr 2012 waren das etwa 146 Millionen Tonnen. Die Variablen, die den Berechnungen für die übrigen Fahrzeugtypen zugrunde liegen, also Aktivitätsraten und Emissionsfaktoren, werden im selben Verfahren ermittelt. Begeistert von der Anschaulichkeit dieser Rechenmethodik, frage ich nach einem weiteren Fallbeispiel aus der Praxis der Datenjongleure. Dabei rücke ich eine der größten CO2-Quellen überhaupt in den Fokus: die Kohlekraftwerke.
Hier sieht die Formel wiederum so aus: Aus Angaben zur Menge der verfeuerten Kohle wird die Aktivitätsrate bestimmt; aus Daten zu den Kohlenstoffgehalten der eingesetzten Brennstoffe, ob Braunkohle aus der Lausitz oder Steinkohle aus dem Ruhrgebiet, kalkuliert man den Emissionsfaktor. Die Multiplikation beider Werte ergibt die Emissionsmenge.
Zusammengerechnet betrug der Treibhausgasausstoß 2012 in Deutschland 940 Millionen Tonnen, umgerechnet in Kohlendioxid-Äquivalente. Ein Anstieg von elf Millionen Tonnen gegenüber dem Vorjahr. Um den Aufwand hinter all der Zahlenhuberei zu verstehen, gibt mir Michael Strogies einen Einblick ins Innenleben seiner Behörde. So sind im Umweltbundesamt ungefähr 60 Experten an der Emissionsberichterstattung beteiligt, darunter Biologen, Chemiker, Informatiker, Ingenieure. Der Datenpool, der ihnen für ihre Rechenmodelle zur Verfügung steht, setzt sich aus Erhebungen von Behörden zusammen, darunter vor allem die Statistischen Ämter aus Bund und Ländern. Aber auch Industrieverbände geben Informationen. Die Emissionen für die Landwirtschaft, die zum Beispiel in der Viehhaltung entstehen, ermittelt das Thünen-Institut. Auch in anderen Industrieländern liefert eine Allianz aus Ämtern, Verbänden und Forschungsinstituten das Rohmaterial für die Emissionsberichte.
Das Zusammenspiel scheint sich zumindest in Deutschland zu lohnen. Dass Quellen für Treibhausgas-Emissionen übersehen wurden, hält Strogies für unwahrscheinlich. Die Emissionsberichte werden von internationalen Experten regelmäßig begutachtet, ein Verfahren, das der Weltklimarat vorschreibt. Strogies sagt über die Vollständigkeit der Quellen: "Bislang hat der Weltklimarat in den letzten Jahren diesbezüglich nichts zu beanstanden gehabt." So umfangreich die Emissionsermittlung ist, sie lässt sich also realisieren. Wenn man sich ein bisschen Zeit nimmt, versteht man sogar die Berechnungsverfahren - jedenfalls in groben Zügen.
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