Standpunkte
Brauchen wir die elektronische Patientenakte?
Was bedeutet es, wenn die gesamte Krankengeschichte jedes Einzelnen mit allen Diagnosen, Behandlungen, Rezepten, Allergien und Röntgenbildern in einer elektronischen Datenbank gespeichert und landesweit verfügbar ist? Zwei Blickwinkel
In Skandinavien wäre diese Verkettung unglücklicher Unaufmerksamkeiten vermutlich nicht passiert. Dort gibt es so genannte elektronische Patientenakten, eine digitale Datenbank, die die gesamte Krankengeschichte eines Patienten speichert – alle Diagnosen, Behandlungsdaten, Medikamente, Allergien, Röntgenbilder, EKG-Verläufe, und zwar landesweit und institutionenübergreifend. Bei meinem Vater hätte die elektronische Patientenakte Alarm ausgelöst – und meinem Vater die zusätzlichen Beschwerden, dem Gesundheitssystem die teure Nachbehandlung erspart.
Deutschlands Wissenschaftler jedoch können, mittlerweile seit über 20 Jahren, nur von ihrer Einführung träumen. Hierzulande führen Krankenhäuser und Arztpraxen im Wesentlichen Datenbanken, die die Stammdaten wie Adresse, Krankenversicherung und Kosten enthalten. Medizinische Patientendaten werden selbst heute noch auf Papier von Taxis zwischen den einzelnen Häusern großer Kliniken hin- und hertransportiert.
Abgesehen vom offensichtlichen Nutzen für den einzelnen, Vergleichsstatistiken zeigen zudem: Die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Behandlung hängt von der ärztlichen Meinung ab, die oft auch von der Vergütung der jeweiligen Therapie beeinflusst wird. Wären alle Diagnosen, therapeutischen Maßnahmen und deren Kosten elektronisch verfügbar, so könnte man statistische Forschung betreiben und über einen großen Bevölkerungsschnitt hinweg die besten Therapien für eine Erkrankung und einen bestimmten Personenkreis ermitteln. Skandinavien ist uns auch auf diesem Feld weit voraus. Die dortigen Gesundheitssysteme sind zum Bruttoinlandsprodukt um etwa 20 Prozent billiger, dafür aber effektiver: Ab dem 65. Lebensjahr genießen schwedische Rentner im Schnitt noch 14 gesunde Jahre, wir Deutschen dagegen nur sieben.
Die Ursachen liegen nicht allein in der elektronischen Verfügbarkeit von Daten, aber damit könnten geeignete Anreizsysteme für Gesundheitsdienstleister und Patienten entwickelt werden, die für das viele Geld auch adäquate Resultate sicherstellen würden.
Über die elektronische Patientenakte wird seit über 20 Jahren diskutiert. Oft mit unklaren Begrifflichkeiten, falschen Heilsversprechen und überzogenen Erwartungen, aber auch begleitet von unbegründeten Befürchtungen. Die wichtigste Klarstellung zu Beginn: Es gibt elektronische Patientenakten, die vom Arzt oder der behandelnden Institution geführt werden, und es gibt elektronische Gesundheitsakten, die sich in der Hand des Patienten befinden. Die einzige Gemeinsamkeit beider Formen ist die verwirrende Vielfalt an Namen, unter denen sie
in der Debatte auftauchen. Ansonsten unterscheiden sie sich in fast allem: in ihrer Finanzierung,
in ihrer Verlässlichkeit und Vollständigkeit; in den Personen, die für sie Verantwortung tragen und im Schadensfall haften – und damit eben auch in ihrer Nützlichkeit für Patienten und Gesellschaft.
Die zeitlichen Perspektiven sind ebenfalls grundverschieden: Eine Akte des Patienten geht immer über die einzelne Behandlungsepisode hinaus und zielt auf eine lebenslange Dokumentation
der Krankheitsgeschichte ab. Die arztgeführte Akte ist beschränkt auf den jeweiligen Behandlungsfall und die Institution. Denn inhaltlich, technisch und datenschutzrechtlich ist es gar nicht so einfach, institutionsübergreifende, von Medizinern verantwortete Akten zu organisieren. Gleichwohl kommt erst in der Dokumentation über die einzelne Behandlungsepisode hinaus der wahre Mehrwert zum Tragen: Die Dokumentation von Krankengeschichte und Behandlungsverläufen läge dauerhaft vor, die Arzt-zu-Arzt-Kommunikation und die Notfallbehand-
lung würden entschieden verbessert werden.
Als exemplarische erste Entwicklung auf diesem Weg kann das Projekt zur institutionsübergreifenden „Elektronischen Fallakte“ gelten. Erfreulicherweise hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt bereits einiges getan. Die Politik hat explizit die Einführung einer institutionsübergreifenden elektronischen Patientenakte und deren Unterstützung durch die Gesundheitstelematik-Infrastruktur vorgesehen.
Doch Herausforderungen auf dem Weg zu sicheren und funktionalen Systemen bleiben. Dabei sollte man nicht nur an Datenschutz und Datensicherheit denken. Auch die Fragen, wie viele Daten strukturiert – und nicht als Freitext oder gescannte Papierunterlagen – vorliegen, in welchen
standardisierten Datenformaten und mit welchen internationalen Terminologien sie kodiert sind, sind für die institutionsübergreifende Weiterverarbeitung essentiell. Und nicht zuletzt sind berufs- und haftungsrechtliche Fragen zu klären: Nur elektronische Daten, in die der Arzt auch hineinschaut und denen er vertrauen darf, entfalten den Nutzen, den man sich von einer elektronischen Patientenakte verspricht.
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