Corona-Pandemie
Bewegungsmangel bedroht die kindliche Gesundheit
Mehr digitaler Unterricht, weniger Bewegung und Begegnung – der Lockdown beeinflusst Kinder und Jugendliche ganz besonders. Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie konnten zeigen, dass Kinder mental unter der Pandemie leiden.
Je mehr sich Kinder bewegen, desto gesünder sind sie – sowohl körperlich als auch psychisch. In der Corona-Pandemie fehlen ihnen jedoch viele Optionen, sich zu bewegen; etwa, weil der Schul- oder Vereinssport oder auch das freie Gruppenspielen mit Freunden nicht stattfinden können. Wie sich der Lockdown auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirkt, untersucht das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zusammen mit der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe in der Motorik-Modul-Längsschnittstudie (MoMo).
Während der Pandemie setzten die Forscher in der Studie neue Schwerpunkte in Bezug auf die mentale Gesundheit. „Wir haben dazu die Aspekte psychische Gesundheit, physiologisches Wohlbefinden, Autonomie und Elternbeziehung, sozialer Support und Schulumgebung untersucht“, erklärt Kathrin Wunsch vom Institut für Sport und Sportwissenschaften des KIT. Aus anderen Studien war bereits bekannt, dass lange Sitzzeiten die Gesundheit negativ beeinflussen. Kurzum: Wer sich viel bewegt, ist körperlich und psychisch gesünder. „Die große Frage ist: Sind die Kinder mental gesund, weil sie sich bewegen, oder bewegen sie sich, weil sie mental gesund sind?“, bemerkt Kathrin Wunsch, die die Ergebnisse nun in der Fachzeitschrift Children veröffentlichte.
Die Motorik-Modul-Studie
Forschende des Motorik-Moduls erfassen seit 2003 die motorische Leistungsfähigkeit und körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Damit will MoMo einen Beitrag zur langfristigen Verbesserung der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen leisten. Das Modul ist ein Element der großen KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland des Robert Koch-Instituts.
Mehr als eine Stunde hat den Erhebungen zufolge die Mediennutzung in der Freizeit zugenommen. Während Kinder und Jugendliche im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 im Schnitt 36 Minuten mehr Zeit mit sportlichen Alltagsaktivitäten verbrachten, führte die Schließung der Vereine zu einer Reduktion des organisierten Sportes um 28,5 Minuten. Aber: „Spielen im Freien, Fahrradfahren, Garten- oder Hausarbeit haben nicht dieselbe Intensität wie Training und Wettkämpfe“, mahnt die Wissenschaftlerin Claudia Niessner vom KIT. „Zusätzlich hat sich dieses Bild im zweiten Lockdown deutlich verändert. Wir sehen in den neusten Befragungen, dass 2021 auch die Alltagsaktivitäten stark abgenommen haben.“ Auch wenn die Untersuchungen aus der zweiten Lockdown-Phase noch analysiert werden müssen, zeige sich diese Tendenz bereits deutlich.
Die Pandemie hat einen negativen Einfluss auf die Psyche der Kinder
Die Studie belegt, dass die Pandemie einen negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat. Sportliche Aktivitäten und mentales Wohlergehen nahmen gleichermaßen ab. Letzteres ist nicht einfach eine Folge der gesunkenen Aktivität. „Es spielen viele Faktoren in die mentale Gesundheit herein: Einsamkeit zum Beispiel, Zukunftsängste oder Stress durchs Homeschooling“, sagt Kathrin Wunsch. Dennoch vermuten die Forscher, dass der soziale und der Spaß-Effekt gemeinsamer sportlicher Betätigung eine Rolle spielt: „Vor allem Vereinssport hat einen positiven Effekt“, bestätigt Claudia Niessner. „Ballsport zum Beispiel macht Spaß, diesen Sport konnten Kinder gerade aber nicht machen. Und genau dieser Spielsport fehlt immens – das verschlimmert die psychischen Probleme.“
Nicht verwunderlich ist, dass der Medienkonsum der Kinder im Lockdown deutlich zunahm. In einer aktuellen Befragung zum Stand der Bildung in der Pandemie fanden Wissenschaftler des ifo-Instituts heraus, dass Kinder im Lockdown Anfang dieses Jahres insgesamt 4,6 Stunden pro Tag mit Fernsehen, Computerspielen oder ihrem Handy verbrachten. Das ist der Statistik zufolge deutlich mehr Zeit, als sie für Schulaufgaben oder den Distanzunterricht aufwendeten. Ein gutes Drittel der Eltern berichtete außerdem, dass ihre Kinder durch den Bewegungsmangel an Gewicht zugenommen hätten. Die Forscher vom KIT bestätigen: Der Mangel an Bewegung beeinträchtigt nicht nur die Kondition und Koordination, sondern vor allem bei sportfernen Familien haben ein Viertel der Kinder zugenommen. Diabetes und andere chronische Krankheiten könnten die Folge sein.
Unterstützung für Schulen und Vereine
Alexander Woll, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft des KIT, sieht vor allem den Wegfall des Schul- und Vereinssports kritisch und auch im zweiten Jahr der Pandemie als noch zu wenig beachtet. „Während wir große Fortschritte in der Digitalisierung gemacht haben, sind auf der anderen Seite damit zusammenhängend größere Probleme entstanden, um die sich bisher zu wenig gekümmert wird“, sagt der Sportwissenschaftler. „Sport wird beim Thema Bildung oft vergessen“, mahnt er. „Es ist nicht nur Bildungszeit verloren gegangen, sondern auch die aus der Bewegungsperspektive entstandenen Lücken müssen kompensiert werden.“
Bewegung habe weder in der Schule noch im Verein eine Lobby. Das zeige sich allein schon daran, dass in der Grundschule gut die Hälfte des Sportunterrichts fachfremd unterrichtet werde. Woll wünscht sich einen Pakt zu Bewegungsförderung, der sowohl Bildungsinstitutionen wie Schulen und Kitas, wo Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft erreicht werden können, als auch Vereine unterstützt und neue Infrastrukturen schafft. „2020 haben die Vereine 15 Prozent der unter 6-jährigen Mitglieder verloren“, mahnt Woll. „Wir müssen diese Strukturen neu aufbauen und unterstützen, Vereine dürfen damit nicht allein bleiben.“
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