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Helmholtz weltweit

Überwintern in der Antarktis

Bild: Stefan Christmann / AWI

13.800 Kilometer fern der Heimat leitet der Münchener Chirurg Tim Heitland den Betrieb der deutschen Antarktis-Forschungsstation Neumayer III.

Was die eigenen Augen sehen, kann trügerisch sein auf dem Ekström-Schelfeis im nordöstlichen Weddellmeer, Antarktis. Graue Wolken am Horizont verkehrt das Gehirn in gewaltige Bergketten. Entfernungen zu Fixpunkten im scheinbar endlosen Eis wirken um ein Vielfaches kleiner als sie in Wirklichkeit sind. Und wer an wolkenverhangenen Tagen nicht aufpasst, fällt schnell auf die Nase, weil das Weiß des Untergrundes übergangslos mit dem Wolkenweiß des Himmels verschmilzt. In diesem kontrastlosen Nichts lösen sich zum Beispiel die Konturen der Pistenbully-Spuren im Schnee optisch auf. „Die Schwerkraft allerdings wirkt trotzdem“, sagt Tim Heitland.

Abschiedsgrüße An der Eiskante verabschieden die Stationsbewohner das Forschungs- und Versorgungsschiff Polarstern. Bild: Thomas Steuer/AWI

Vier Monate sind vergangen, seit der 40-jährige Chirurg das erste Mal 14.000 Kilometer fern der Heimat auf dem Ekström-Schelfeis stand und auf jenes Gebäude blickte, das bis Februar 2018 sein Arbeitsplatz und Zuhause sein wird: die deutsche Forschungsstation Neumayer III, die das Alfred- Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polarund Meeresforschung (AWI), auf der schwimmenden Eiszunge errichtet hat. Ein blau-weiß-roter Stahlkoloss auf 16 hydraulischen Stelzen, der den Polarwinden so breitschultrig die Stirn bietet, dass er zum Anfang eines jeden Sommers um bis zu zwei Meter angehoben werden muss. Sonst würde die Station nach zehn Jahren im Schnee versinken.

Ihr 2.300 Tonnen schweres Grundgerüst besteht aus einem Stahlrahmen, in dem 100 Schiffscontainer in zwei Lagen übereinandergestapelt wurden. 16.000 Schrauben halten sie zusammen, innen sind 42 Kilometer Elektrokabel verlegt. In der ersten Etage brummt immer mindestens eines von drei Blockheizkraftwerken. Es erzeugt Strom und so viel Wärme, dass 2.100 Quadratmeter Wohn- und Arbeitsfläche beheizt werden können. „An diesem Gebäude ist wirklich alles durchdacht, sodass ich mich vom ersten Tag an wie ein Seemann auf seinem neuen Schiff gefühlt habe. Ich habe mich sofort in die Station verliebt und mag sie wirklich“, sagt Heitland.

Mit der Außenwelt wird das Überwintererteam bis zum Winterende im November lediglich per Funk, Telefon und Internet verbunden sein

Im Januar 2017 übernahm er als Stationsarzt und Leiter des 37. Neumayer-Überwintererteams die Verantwortung für Deutschlands Klimaforschungsaußenposten in der Antarktis. Bis zur Ablösung im nächsten antarktischen Sommer werden er und sein Team aus vier Wissenschaftlern, drei Technikern und einem Koch an sieben Tagen pro Woche alles daran setzen, dass der Station weder Strom, noch Wärme oder Trinkwasser ausgeht und die Messgeräte in den drei wissenschaftlichen Observatorien rund um die Uhr störungsfrei laufen. Mit ihnen sammeln die Polarforscher Daten zum Wetter, zur Ozonschicht, zum Magnetfeld der Erde, zu Partikeln in der Luft, zu Erdbeben und Atomwaffentests sowie zu Bewegungen der antarktischen Kontinentalplatte.

Längsschnitt durch die Station Wohn-, Arbeits- und Technikräume liegen oberhalb – Garage und Lagerräume unterhalb der Eisoberfläche. Die Neumayer-Station ist eine von zwei Antarktis-Forschungsstationen, die auf einer schwimmenden Eiszunge errichtet wurden. Die Spezialkonstruktion vereint Wohnen, Forschen und alle wichtigen Betriebsprozesse unter einem Dach. Bild: AWI

Mit der Außenwelt wird das Überwintererteam bis zum Winterende im November lediglich per Funk, Telefon und Internet verbunden sein. Freizeit gibt es, wenn gerade keine dringende Arbeit ansteht. Doch auch die muss in der Station verbracht werden, wenn draußen bei Temperaturen von unter minus 40 Grad Celsius einer der vielen Winterstürme an der Fassade rüttelt. „Angst vor einem Lagerkoller habe ich dennoch nicht. Zum einen bietet die Station jedem ausreichend Platz, sich zurückzuziehen. Zum anderen hat sich unser Team in seinen vier Vorbereitungsmonaten so gut aufeinander eingestellt, dass die wichtigen Alltagsdinge ohne viele Worte laufen. Wir haben zum Beispiel noch nie diskutieren müssen, wer den Abwasch oder das Putzen übernimmt“, sagt Heitland.

Alleingelassen werden die Überwinterer auch zu keinem Zeitpunkt. Am AWI in Bremerhaven überwachen Ingenieure via Satellitenstandleitung die Gebäudetechnik der Station. Schaltet sich beispielsweise die Hydraulik der Stelzen aus, kann diese mit Unterstützung aus Deutschland neu gestartet werden. Für medizinische Notfälle stehen im Bremerhavener Krankenhaus Reinkenheide Spezialisten bereit, denen Heitland die Vitalfunktionen oder Röntgenaufnahmen eines Patienten auf den Monitor schalten kann. Die AWI-Stationskoordinatoren verhandeln derweil auf internationalen Antarktis-Konferenzen mit Polarlogistikern anderer Nationen und stellen sicher, dass die Forschungsstation Neumayer III im Sommer von Flugzeugen und Versorgungsschiffen angelaufen wird. Und sollte es im Überwintererteam doch mal Streit geben, steht allen Mitgliedern auch ein externer Konfliktmanager als Ansprechpartner zur Verfügung. „In den zwei zurückliegenden Sommern haben wir außerdem die Satellitenstandleitung der Station runderneuert. Sie verfügt jetzt über deutlich mehr Bandbreite, sodass unser Team in der Antarktis auch über WhatsApp mit der Familie und Freunden in Deutschland in Kontakt bleiben kann“, sagt AWI-Stationskoordinator Eberhard Kohlberg.

„An diesem Gebäude ist wirklich alles durchdacht, sodass ich mich vom ersten Tag an wie ein Seemann auf seinem Schiff gefühlt habe. Ich habe mich sofort in die Station verliebt und mag sie wirklich.“

Tim Heitland erfüllt sich mit seinem Dienst in der Antarktis einen Lebenstraum. „Ich reise viel, bin schon auf allen sechs anderen Kontinenten gewesen und kann jetzt an der Neumayer-Station meinen Beruf mit meiner Leidenschaft für extreme Landschaften verbinden. Eine einmalige Chance“, sagt er.

Für ruhige Stunden im langen, dunklen Polarwinter hat er sich Farben, Pinsel, Rahmenleisten und 20 Quadratmeter Leinwand mitgebracht. Eines seiner ersten Motive wird vielleicht die Schelfeiskante in der Atka-Bucht sein. Jene Linie, an der die 200 Meter dicke Eiszunge des Ekström-Schelfeises abrupt endet und zumindest im Sommer den Blick freigibt auf das Grau-Blau des Südpolarmeeres. „Wir haben im Zuge unserer Vorbereitung viele Fotos und Videos über die Arbeit an der Neumayer- Station gesehen und wussten eigentlich genau, was uns erwartet. Doch erst als ich das erste Mal hier oben an der Schelfeiskante saß, habe ich begriffen, dass ich jetzt wirklich in der Antarktis bin“, sagt Heitland.

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