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Portrait

3D-Modelle für die Materialforschung

Britta Nestler war 2001 Deutschlands jüngste Professorin und erhielt seither zahlreiche Preise. 2017 den renommierten Leibniz-Preis.(Bild.KIT)

Britta Nestler ist Leiterin der Materialforschung am KIT und an der Hochschule in Karlsruhe. Mithilfe ihrer 3D-Simulationen lässt sich am Computer die Lebensdauer von Materialien, beispielsweise im Flugzeugbau, vorhersagen. Für ihre Forschung erhielt sie den Leibniz-Preis.

Über 20 Jahre liegt diese folgenreiche Begegnung nun zurück. 1996 lenkte ein zufälliges Gespräch unter Nachbarn den Lebensweg der jungen Physikerin und Mathematikerin Britta Nestler in eine völlig neue Richtung. Ihre Faszination galt zu diesem Zeitpunkt eigentlich der Quantenphysik. „Mein Ziel war es, mit Papier und Bleistift tief in die Elementarteilchenphysik abzutauchen“, sagt sie. Doch dann kam alles anders. Der Nachbar, ein Materialforscher an der RWTH Aachen, erkundigte sich beiläufig während des Straßenfegens, nach den Plänen der jungen Studentin. Sie erzählte von ihrem Diplomthema in theoretischer Physik, das so gut wie feststand. Doch dann wurde sie neugierig. „Er lud mich ins Aachener Zentrum für Erstarrung in der Schwerelosigkeit ACCESS e.V. ein, welches im Gießerei-Institut der RWTH ansässig ist – eine völlig andere Welt mit experimenteller Metallbearbeitung, detaillierten Labor-Experimenten und angewandten Computermodellen“, sagt Nestler. Der Besuch sollte der entscheidende Wendepunkt in ihrer Karriere und fachlichen Ausrichtung werden.

Eine gewisse Flexibilität kennzeichnete schon immer den Weg von Britta NestlerFür den Fall, dass es einmal schwierig werden sollte, allein mit Mathematik und Physik eine feste Stelle zu finden, hatte sie neben den beiden Diplom-Studiengängen  Pädagogik studiert. „Ich konnte mir damals vorstellen ins Lehramt zu gehen, als Absicherung fürs Leben“, sagt sie. Und auch wenn sie diese Absicherung nicht brauchte, ist ihr dieses pädagogische Zusatzwissen heute nützlich. Sie lehrt und forscht an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft und am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in den Bereichen Informatik, Maschinenbau und Materialwissenschaften. Im Umgang mit Studierenden kann sie ihr pädagogisches Wissen dabei gut anwenden. „Auch bei der Erziehung meiner eigenen vier Kinder kommt mir dieses Hintergrundwissen hin und wieder zugute“, sagt sie.Einmal mit der Welt der Metaller in Kontakt gekommen, galt ihre Faszination den verborgenen Geheimnissen von Mikrostrukturänderungen, Rissen und dem Materialversagen einerseits sowie der Materialoptimierung andererseits. „Ich war vom ersten Moment an total begeistert. Ich bin zu den Aachener Materialforschern gegangen, mit dem festen Entschluss, in meiner Physikdiplomarbeit nichts mit Experimenten oder Computern zu machen.“ Ihre Abneigung gegen Experimente war in gewisser Weise familiär bedingt. Ihre Mutter schreckte als chemisch-technische Assistentin an der RWTH auch im häuslichen Umfeld nicht vor Experimenten zurück. „Ich erinnere mich, dass sie einmal unsere Gardinen in eine selbst gemischte Tinktur eingelegt hat, damit sie besonders weiß werden. Leider waren von den Gardinen später nur noch die Plastikhäkchen und Stege übrig“, sagt sie rückblickend. Im Gießerei-Institut ging es jedoch weniger um die Chemie als um die Physik. Britta Nestlers Aufgabe während ihrer Diplom- und Doktorarbeit war es, mit Hilfe von 3D-Computermodellen den experimentellen Daten der Metallforscher auf den Grund zu gehen. „Ich fand es toll, dass ich in den Werkhallen und am Mikroskop immer willkommen war. Das direkte Zusammenspiel von Simulation und Experiment war und ist für mich sehr eindrucksvoll. Die Problemstellung und Herausforderungen aus realen Werkstoffen und Anwendungen  ist es, was mich kontinuierlich bei der Materialmodellierung  anspornt“, sagt Nestler. Eine große Freude könnte man ihr mit einigen hochwertigen Drucken von schillernden Mikroskop-Aufnahmen der damals untersuchten Metalllegierungen machen. „Seit Jahren plane ich solche Drucke für meine Büros anfertigen zu lassen. Aber irgendwas kommt immer dazwischen“, sagt sie. Zum Beispiel die Berufung 2001 als jüngste Professorin Deutschlands an die Fakultät für Informatik und Wirtschaftsinformatik der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft. Hier entwickelte sie fortan neue Simulations- und Modellrechnungstechniken, die auf die hohen Rechenkapazitäten von parallel arbeitenden Supercomputern zugeschnitten sind. Durch ihre mathematisch-physikalischen Modelle werden Mikrostrukturen von Materialien aufgedeckt und ihr Verhalten unter extremen mulitphysikalischen Belastungen berechenbar. Ihre Teams wollen herausfinden, wie sich die Struktur eines Werkstoffs während der Herstellung und Weiterverarbeitung, beispielsweise beim Gießen,Walzen oder Schweißen entwickelt. „Bei all diesen Aufgaben hilft mir mein analytisches Denken aus der Physik sowie mein Interesse an den realen Prozessen“„Auch die Mathematik ist dabei unerlässlich, um die Problemstellungen in die Sprache der numerischen Mathemaik zu übersetzen, die dann für Computer in (3D + t) Iterationen übersetzt werden kann“, meint Nestler. Auch die Informatik sei gefragt, um die immer komplexer werdenden Fragen schließlich an einem Hochleistungsrechner lösen zu können. Das sei ein umfassend interdisziplinärer Ansatz. Diese vielfältigen Fähigkeiten haben sicherlich entscheidend dazu beigetragen, dass Britta Nestler das gemacht hat, was man eine steile Karriere nennt. 2006 war sie Gründungsdirektorin des Instituts für Computational Engineering an der Hochschule Karlsruhe. Im gleichen Jahr erhielt sie an der Hochschule Karlsruhe die Berufung eine W3 Position mit besonderen Aufgaben in der Forschung. 2008 gründete sie das Steinbeis-Transferzentrum „Werkstoffsimulation und Prozessoptimierung“, das sie bis heute leitet. Seit 2010 forscht und lehrt Britta Nestler zudem am KIT und ist dort Mitglied der kollegialen Leitung des Instituts für Angewandte Materialien. Besonders stolz ist sie darauf, dass ihre Modelle inzwischen auch in der Industrie eingesetzt werdenIn den vergangenen 20 Jahren stellte sie mit ihrem Team ein umfangreiches modulares Softwarepaket für die Modellierung von Mikrostrukturen unter verschiedenen multiphysikalischen Einflüssen zusammen. Es wurde permanent weiter entwickelt. Als äußerst wichtigen Schritt beschreibt Nestler die Anpassung der Modelle für den Einsatz auf Supercomputern. „Wir vergeben maßgeschneiderte Module aus diesem Paket als Lizenzen. Mit deren Hilfe verbessern Firmen z.B. die Lebensdauer von Bremsscheiben, studieren das Korrosionsverhalten von geometrischen Werkstücken, berechnen die Flüssigkeitspropagation in Biomembranen für die medizinische Diagnostik oder entwickeln neue textile Abstandsgewebe für Solaranlagen“, umreißt Nestler die Bandbreite der Anwendungen. „Die Forschung profitiert, indem wir in 3D-Modellen von Erdstrukturen die Strömungsprozesse in kontaminierten Bodenflächen berechnen oder den optimalen Standort einer Geothermieanlage bestimmen.“Einen großen Vorteil der computergestützten Forschung sieht Nestler auch in der Flexibilität ihres Arbeitsalltags: „Ich kann immer und überall am Computer arbeiten – sei es im Urlaub auf Sylt oder abends wenn alle Kinder im Bett sind.“

Preisverleihung in Halle. Bild: DFG / Falk Wenzel

Am 4. Juli erhielt Britta Nestler auf der Festveranstaltung bei der DFG-Jahresversammlung in Halle nachträglich den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2017. Die Verleihung des wichtigsten deutschen Forschungspreises war im März ausgesetzt worden,nachdem der DFG äußert kurzfristig vor der Preisverleihung anonyme Hinweise im Zusammenhang mit den Forschungsarbeiten von Britta Nestler bekannt gemacht worden waren. Nach intensiver Prüfung durch die DFG unter Hinzunahme auch externer Gutachter haben sich diese Vorwürfe nun als völlig haltlos erwiesen.

Britta Nestler erhält Leibniz-Preis

Ihre Nähe zur Anwendung und Industrie hilft Britta Nestler bei der Einwerbung von Drittmitteln. „Dabei kommen die Grundlagen jedoch oft zu kurz“, sagt Nestler. Deshalb ist sie über die Auszeichnung, die sie gerade empfangen hat, überglücklich. Sie ist eine von drei Wissenschaftlerinnen und sieben Wissenschaftlern, die den diesjährigen Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten haben. Der renommierteste deutsche Wissenschaftspreis wurde ihr gerade erst im März – mit ein paar Monaten Verspätung - verliehen. Anonyme Hinweise in Bezug auf ihre Forschung, die kurz vor der Verleihung auftauchten, mussten geprüft werden und stellten sich im Nachhinein als haltlos heraus. „Mit dem Preisgeld von 2,5 Millionen Euro kann ich nun auch grundlegende Bereiche stärken, wie beispielsweise die numerischen Lösungsverfahren, Algorithmen zur Datenanalyse oder neue Methoden in der Informatik. Letztlich ist das die Basis, man könnte sagen die apparative Ausstattung für unsere Materialsimulationen, die die gesamte Forschungsarbeit am Institut trägt“, sagt sie. Ihr umfangreiches Arbeitspensum könnte Britta Nestler sicher nicht ohne eine starke Familie im Hintergrund stemmen. Ihr privater Rückzugsort sind ihre vier Kinder, ihr Lebenspartner und ihre Mutter, die vor zehn Jahren nach Karlsruhe zog, um sie zu unterstützen. „Ruhe finden wir als Familie im Schwarzwald. Da können die Kinder draußen toben oder ins nahegelegene Hallenbad gehen“, beschreibt sie gelegentliche Kurzurlaube. Im Sommer lockt Sylt. „Der Strand und die frische Luft sind wunderbar. Solange ich einen WLAN-Anschluss zur Verfügung und meinen Laptop dabei habe, und sich so während des Urlaubs nicht zu viel Arbeit aufstaut, kann ich die Zeit in den Ferien auch sehr genießen“, sagt sie. 

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