Portrait
Verkehrsforschung für die Stadt von morgen
Dirk Heinrichs beschäftigt sich mit der Mobilität der Zukunft. Dabei schaut er nicht nur auf die Technik, sondern vor allem auf das Verhalten der Menschen.
„Was für eine Zeitverschwendung“, denkt Dirk Heinrichs, wenn er mal wieder in Sao Paulo oder Buenos Aires im Stau steht. In Südamerikas Megacities verbringen Berufspendler mehrere Stunden täglich im Auto. Er muss das nur bei seinen Forschungsaufenthalten ertragen: Blechlawinen bis zum Horizont. Zu Hause in Berlin ist es weniger schlimm, trotzdem nimmt er lieber S-Bahn und Fahrrad, wenn er zum Arbeiten rausfährt nach Adlershof. „Das ist günstig und entspannt.“ Wenn nur mehr Menschen so dächten. Doch wie bringt man sie dazu, auf das eigene Auto zu verzichten? Öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, Car- und Bike-Sharing? Was müssen Städte tun, damit die Alternativen funktionieren? Welche Rolle können autonome Fahrzeuge dabei spielen? Das herauszufinden ist seine Aufgabe.
Seine Herangehensweise heißt Vernetzung. So wenig, wie er in der Stadt versucht, allein mit eigenem Auto ans Ziel zu kommen, so wenig glaubt er, mit einer einzelnen Disziplin etwas zu erreichen. Und so vernetzt Dirk Heinrichs ganz bewusst Verkehrsplanung mit Stadtentwicklung. „Die Art und Weise, wie Städte gebaut sind und wie der Verkehr sich entwickelt, beeinflussen einander“, sagt er. Besonders gut zu sehen sei das in Nordamerika: „Dort werden die Flächen extensiv genutzt und die Bevölkerungsdichte in Städten ist so gering, dass diese für den öffentlichen Nahverkehr kaum zu erschließen sind.“ Hinzu komme die fehlende Nutzungsmischung: Menschen wohnen am einen Ende, am anderen kaufen sie ein und ins Zentrum fahren sie zum Arbeiten. Klar brauchen sie ein Auto.
Stadtplanung war die erste Disziplin des 51-Jährigen. Nach dem Studium der Landschaftsplanung arbeitete er in Ingenieurbüros und wirkte mit am Umbau Berlins nach der Wende. „Im Osten der Stadt lagen riesige Wohngebiete, die besser versorgt werden mussten. Und Freiflächen ohne jede Funktion.“ Es folgten vier Jahre auf den Philippinen, wo er eine Regionalregierung beriet, ein Umweltinformationssystem aufbaute und erforschte, wie sich die gewonnen Daten für kommunale und regionale Planungsentscheidungen nutzen lassen. Das Projekt mündete in eine Dissertation. 2005 kam er zum Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, seit 2014 leitet er am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt die Abteilung „Mobilität und Urbane Entwicklung“.
Bei seiner Forschung steht der Mensch im Mittelpunkt, denn letztlich hängt es von diesem ab, ob die Ideen von Planern und Technikern funktionieren. Nach welchen Kriterien entscheidet er, ob er selbst fährt oder sich fahren lässt? Wie beurteilt er die neue App, die ihn ins Nahverkehrsnetz locken soll? Oder das Carsharing-Angebot in seiner Stadt? Dirk Heinrichs und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter analysieren Blogs und Foren, sie befragen Zielgruppen, testen Mobilitätstechnologien mit Nutzerinnen und Nutzern in Reallaboren. „Zum Beispiel: Wie kommt es an, wenn der Bus ganz nach Bedarf an jeder Ecke hält?“ Aus all diesen Erkenntnissen leiten sie Entscheidungsmodelle ab. Die geben Aufschluss, wie und wo die zehn Millionen Wege pro Tag in Berlin bewältigt werden, und welchen Einfluss zum Beispiel eine City-Maut darauf hätte.
„Das liebe ich an meinem Beruf“, sagt Dirk Heinrichs: „Den Hebel zu finden, um etwas zu verändern.“ Zusammenhänge zu erfassen um an den richtigen Schrauben zu drehen, das treibt ihn an. Und das bringt ihn mit anderen zusammen. „Daten auswerten kann man allein, aber es braucht Kreativität, um sie zu interpretieren. Das funktioniert nur im Team.“ Für Dirk Heinrichs ist es essenziell, Probleme mit Partnern anzugehen und mit Praktikern zu arbeiten. Verknüpfen, vernetzen, in Zusammenhängen denken, das ist seine Mission, und das rät er auch seinen Studierenden der Verkehrs- und Raumplanung. „Technologien allein können die Welt nicht retten, ebenso wenig wie raumplanerische Konzepte“, sagt er. „Das geht nur mit den Menschen.“ Und um deren Entscheidungen zu verstehen, bedürfe es sozialwissenschaftlicher Kompetenzen.
Wenn er ausspannen will, setzt er sich ans Klavier. Oder er fährt mit seinem 16 jährigen Sohn Paddeln, „in einem Faltboot, das genauso alt ist wie ich selbst“. Zuletzt waren sie in den Fjorden Norwegens unterwegs. Steile Bergwände, klares Wasser – und weit und breit kein Auto.
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