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Weltraumforschung

Verstärkung für Europas Astronauten

Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt sucht die Europäische Weltraumorganisation nach neuen Astronauten. In der letzten Ausschreibung haben sich Luca Parmitano, Thomas Pesquet, Alexander Gerst, Andreas Mogesen, Tim Peake und Samantha Cristoforetti (v.l.n.r.) für den ESA-Astronautenkorps qualifiziert (Bild: ESA).

Zum ersten Mal seit 13 Jahren sucht die Europäische Weltraumorganisation neue Astronautinnen und Astronauten. Im Fokus steht dabei Diversität, denn die ESA will die Arbeit im Orbit nicht nur für Frauen attraktiver machen, sondern auch für Menschen mit Behinderungen öffnen.

Ein Arbeitsplatz, bei dem einem die Welt zu Füßen liegt und man von erfahrenen Weltraumforschern lernen kann – nicht weniger verspricht der Job, den die Europäische Weltraumagentur ESA gerade ausschreibt.Vom 31. März bis zum 28. Mai nimmt die ESA Bewerbungen für das neue Ausbildungsprogramm an. „Wir suchen nach vier bis sechs Astronautinnen und Astronauten, die das europäische Corps verstärken“, sagt Jules Grandsire. Er hat zehn Jahre lang die Kommunikation der Astronautenklasse von 2009 und die des Europäischen Astronautenzentrums in Köln geleitet. Nun ist er im ESA-Hauptquartier in Paris für die Kommunikation rund um das Astronautenauswahlverfahren verantwortlich.

Raumfahrt ist keine Frage des Geschlechts

Ein Schwerpunkt liegt diesmal darauf, mehr Frauen für eine Karriere im Weltall zu gewinnen. „Unser Auswahlprozess hat noch nie auf Geschlecht, Reisepass oder Alter geschaut“, erklärt Jules Grandsire die Hintergründe. „Aber das reicht nicht. Der Bewerberpool war bisher immer sehr homogen.“ So lag der Anteil der Bewerberinnen bei der letzten Ausschreibung im Jahr 2008 nur bei etwas mehr als 16 Prozent. „Das wollen wir diesmal erhöhen, damit wir am Ende des Bewerbungsprozesses auch wirklich eine Chance auf echte Geschlechtsdiversität in unserer Astronautenklasse haben.“

Im ESA-Hauptquartier in Paris ist Jules Grandsire für die Kommunikation rund um das Astronautenauswahlverfahren zuständig (Bild: ESA).

Tatsache ist, dass die Berufe, aus denen die ESA ihre Astronautinnen und Astronauten rekrutiert – gesucht werden etwa Fachleute aus den Naturwissenschaften, dem Ingenieurwesen, der Medizin oder Testpilotinnen und -piloten – in Europa bisher einen geringen Frauenanteil haben. Doch Jules Grandsire ist sich sicher, dass trotzdem genügend Talente vorhanden sind. „Viele Menschen trauen sich keine Bewerbung zu, obwohl sie das Zeug zu guten Astronauten haben“, erklärt er. „Untersuchungen haben gezeigt, dass dieses Phänomen häufiger bei Frauen auftritt. Wenn wir also mehr Kandidatinnen haben wollen, müssen wir Frauen gezielter ansprechen. Wir müssen unsere Kommunikation komplett umdenken; anfangen, Frauen häufiger als Protagonistinnen auszuwählen, unsere Wortwahl zu ändern und sogar die Musik in unseren Videos.“ Diversität über eine Quote zu erreichen, kam dabei nicht infrage. „Für die ESA spielt das Geschlecht keine Rolle. Daher haben sich die Mitgliedsstaaten bei den Gesprächen zur Astronautenauswahl auch noch einmal gegen eine Quote geäußert. Wir möchten weiter neutral bleiben. Denn neutral heißt auch fair.“

Die perfekten Kandidatinnen und Kandidaten: stressresistent und lernbegeistert

Die fachliche Qualifikation ist eine grundlegende Voraussetzung, um in die engere Auswahl zu kommen. Ein Masterabschluss in den Naturwissenschaften, ein Ingenieursabschluss, ein Doktorgrad in Medizin oder eine Ausbildung als Testpilot öffnen hier die Türen. Außerdem ist ein fliegerärztliches Tauglichkeitszeugnis nötig, was der Bewerbung beigelegt werden muss.

„Wenn wir mehr Astronautinnen gewinnen wollen, müssen wir Frauen gezielter ansprechen.“

Doch ein guter Abschluss macht noch lange keine guten Raumfahrerinnen und Raumfahrer aus. „Astronautinnen und Astronauten müssen in einem multikulturellen Umfeld, in gefährlichen, stressigen, ungewöhnlichen und unkomfortablen Situationen effizient arbeiten können“, skizziert Jules Grandsire. „Die internationale Raumstation ist kein 5-Sterne-Hotel. Und die verschiedenen Kapseln, mit denen man dorthin fliegt, sind das schon gar nicht“, fügt er schmunzelnd hinzu. „Deshalb suchen wir Leute, die unter Stress ruhig bleiben können; die eine hohe Toleranz haben, für andere Menschen, andere Kulturen und fehlenden Komfort; die sehr belastbar sind und die Spaß daran haben, viel Neues zu lernen.“ Letzteres wird für die neuen Astronautinnen und Astronauten nach der Auswahl ohnehin zur Hauptaufgabe. Denn bevor sie sechs Monate im All verbringen werden, stehen zweieinhalb Jahre Training auf dem Programm – von den ein bis anderthalb Jahren Grundausbildung ganz zu schweigen.

Ein Jahr strenge Auswahl für einen Platz über den Wolken

Doch bis es so weit ist, erwartet die Bewerberinnen und Bewerber ein gut einjähriger Auswahlprozess, in dem die fachlichen Qualifikationen mit den Anforderungen in der Ausschreibung verglichen werden. Wer diese Runde übersteht, wird nach Hamburg eingeladen. Dort befindet sich ein großer Standort des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Das dortige Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin hat eine eigene Abteilung für Luft- und Raumfahrtpsychologie. Ideal für die psychologischen Tests am Computer, die nun auf dem Programm stehen und die das Bewerberfeld weiter schrumpfen lassen. „Für die Astronautenklasse 2009 hatten wir über 8.000 Bewerber“, erzählt Jules Grandsire. „Davon wurden etwa 900 nach Hamburg eingeladen. Von ihnen qualifizierten sich knapp 200 für die nächste Teststufe.“

Diese findet auch diesmal im Astronautenzentrum der ESA in Köln statt. Dort steht dann Gruppenarbeit auf dem Plan. Denn die ESA will von ihren Bewerbern wissen: Wie lösen sie Probleme in einer Gruppe? Wie führen sie? Wie folgen sie? Wer sich hier beweist, kommt eine Runde weiter. „Die besten werden zu den medizinischen Untersuchungen geschickt. Dort wird jedes Organ wird mit der Lupe angeschaut.“

„Wir suchen Leute, die eine hohe Toleranz für andere Menschen und andere Kulturen haben, sehr belastbar sind und viel Neues lernen wollen.“

Bei der vergangenen Auswahl schafften es 72 Bewerberinnen und Bewerber bis zu den Ärzten. Wer hier für tauglich befunden wird, hat dann die Chance auf einen Platz auf der Shortlist. Auf diese gelangten beim letzten Mal zehn Bewerber. Wer schlussendlich zu den vier bis sechs neuen Astronautinnen und Astronauten gehören wird, entscheidet der neue ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher gemeinsam mit den ESA-Delegationen. „Und wenn sich am Ende herausstellt, dass zehn oder zwanzig Bewerberinnen und Bewerber gut genug sind, um Astronaut zu werden, schlagen wir den restlichen vor, sich der neu gegründeten Reserve anzuschließen.“

Grundausbildung und umfangreiche Trainings

Während diese Gruppe in ihrem alten Job verbleibt, geht es für die neuen Berufsastronautinnen und -astronauten zur Grundausbildung ins Europäische Astronautenzentrum in Köln. „Astronautinnen und Astronauten sind Spezialisten auf ihren jeweiligen Gebieten“, fasst Jules Grandsire zusammen. „In 18 Monaten bringen wir sie alle auf das gleiche Level in den Ingenieurswissenschaften, den Naturwissenschaften, der Medizin und natürlich der Raumfahrt.“ Danach stehen Trainings bei den Partnern in den USA, Russland, Kanada oder Japan auf dem Programm und natürlich das spezielle Training für die erste Mission im All. Und schließlich steht er den Astronautinnen und Astronauten endlich offen: der Arbeitsplatz, an dem ihnen die Welt zu Füßen liegt.

Bewerberportal

Infos zum Ausbildungsprogramm

Das Projekt Parastronaut

In dem Feasibility-Project Parastronaut sucht die ESA zum ersten Mal in der Geschichte der Raumfahrt explizit nach potenziellen Raumfahrerinnen und Raumfahrern mit Behinderungen. Die fachlichen, physischen und psychischen Auswahlkriterien sind dieselben wie bei der regulären Ausschreibung für das Astronautencorps. Mit einer Ausnahme: eine Behinderung ist ausdrücklich erwünscht.

Wer ausgewählt wird, darf in die Reserve eintreten und gemeinsam mit der ESA und deren Partnern daran arbeiten, dass sich das Weltall in Zukunft niemandem mehr verschließt. „Ich persönlich bin immer schwer von den Leistungen der Athleten bei den Paralympischen Spielen beeindruckt“, erzählt Jules Grandsire. „Für mich ist Diversität etwas, das wir in unserem persönlichen Leben und in unserem beruflichen Alltag demonstrieren müssen. Meiner Meinung nach ist die Raumfahrt dafür prädestiniert.“

Parastronaut Project

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