Ernst Jung-Preis
Wie Schmerzen entstehen
In den letzten Jahren ist es Forschern gelungen, die Entstehung von Schmerzen bis in die molekulare Ebene hinein zu verstehen. Das ermöglicht völlig neue Ansätze bei der Behandlung. Eine Schlüsselrolle spielte dabei eines der außergewöhnlichsten Tiere unseres Planeten.
Man betrachte etwas außergewöhnliches, ganz besonderes. Etwas, was nicht normal ist, sondern extrem. Und lerne daraus, um das Gewöhnliche, das Normale und Weitverbreitete besser zu verstehen. „In der Forschung bringt dieser Ansatz oft wertvolle neue Erkenntnisse“, sagt der Neurobiologie Gary R. Lewin, der beim Thema Schmerzen zurzeit genauso vorgeht und vor Kurzem gemeinsam mit der Biochemikerin Brenda A. Schulmann den renommierten Ernst Jung-Preis erhalten hat.
Gary Lewin ist Professor für Neurobiologie am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC); das Extreme, was er betrachtet, wiegt etwa 35 Gramm und ist rund 10 Zentimeter lang: Nacktmulle. Kleine Nagetiere, die kein Fell haben wie etwa Mäuse, sondern lediglich nackte Haut, daher der Name. Gary Lewin erforscht eine einzelne Unterart der Nacktmulle, die eine ganz bestimmte Eigenschaft haben: Sie empfinden bei einer Reihe von Reizen, die bei anderen Lebewesen Schmerzen und Brennen hervorrufen, fast nichts. Diese Schmerzunempfindlichkeit hat ihnen große evolutionäre Vorteile gebracht: Sie können dort leben, wo andere Lebewesen nicht leben können, etwa in der unmittelbaren Nähe von Tieren, die zu ihrem Schutz schmerzauslösende Substanzen absondern.
Lewin stieß bereits 2008 auf diese erstaunliche Robustheit, und er suchte nach den Ursachen dafür, dass sie kaum Schmerz empfinden, etwa bei Kontakt mit Wasabi und Chilli. Dabei entdeckte er eine Reihe von Genen, die dafür verantwortlich zu sein schienen. Und siehe da: „Als wir die Gene ausgeschaltet haben, waren die Tiere plötzlich ganz normal schmerzempfindlich“, sagt Lewin. Bingo! Als hätte man einen Schalter umgelegt. Natürlich drängt sich da die Frage auf: Kann man den Schalter nicht auch beim Menschen umlegen, aber in die andere Richtung, dass er weniger schmerzempfindlich wird? Lassen sich damit vielleicht neuartige Schmerzmedikamente entwickeln? „Wir arbeiten daran“, sagt Lewin lächelnd.
Doch die Forschung an den Nacktmullen ist nur ein kleiner Teil der wissenschaftlichen Arbeit, für die Lewin jetzt mit dem mit insgesamt 300.000 Euro dotierten Ernst-Jung-Preis der Jung-Stiftung ausgezeichnet wird. Er hat eine Reihe von grundlegenden Mechanismen entdeckt, mit denen sich der Tastsinn und die Schmerzwahrnehmung insgesamt besser verstehen lässt. So konnte er 2007 die Bedeutung des Proteins STOML3 entschlüsseln, es ist gewissermaßen eine molekulare Grundlage für den Tastsinn. Möglicherweise lassen sich durch die Hemmung von STOML3 sogenannte neuropathische Schmerzen, bei denen Patienten selbst kleinste Berührungen als schmerzhaft empfinden, behandeln. Ein entsprechendes Medikament befindet sich mittlerweile in der Entwicklung.
Am weitesten fortgeschritten ist aber die klinische Anwendung einer Entdeckung, die Lewin bereits in den 1990er Jahren gemacht hat. Vor mehr als 20 Jahren hat er die Rolle des sogenannten Nerve Growth Factor (NGF, Nerven-Wachstums-Faktor) im Detail beschrieben. Der körpereigene Botenstoff wird bei Entzündungen vermehrt ausgeschüttet und steigert das Schmerzempfinden. Heute stehen die ersten Schmerzmedikamente auf Basis dieses Mechanismus kurz vor der Zulassung. Es sind verschiedene Antikörper, die gezielt an NGF binden und ihn damit blockieren. Was er damals gemacht hat, war Grundlagenforschung, wie man so schön sagt: Es ging zunächst ums Verstehen. „Dass nun daraus doch eine klinische Anwendung wird, das ist für mich ein schönes Gefühl – und eine Bestätigung, dass auch und sogar besonders Grundlagenforschung Fortschritt bringt, der nach einer Zeit weit über das Verstehen hinausgeht“, sagt Lewin.
Knapp 600 Kilometer entfernt im Max-Planck-Institut (MPI) für Biochemie in Martinsried bei München erforscht die Professorin und für Biochemie Brenda A. Schulman, die gemeinsame mit Lewin den diesjährigen Ernst-Jung-Preis erhalten hat, ebenfalls die molekularen Mechanismen des Körpers. Die Direktorin des Instituts konzentriert sich aber nicht auf den Schmerz, sondern auf ein winziges Molekül, das in allen menschlichen Körperzellen vorhanden ist: Ubiquitin. Das Molekül steuert eine Vielzahl von biochemischen Reaktionen in den Zellen. Zu jedem Zeitpunkt sind in jeder menschlichen Zelle Tausende Ubiquitin-Moleküle aktiv, sie regulieren und beeinflussen alles Mögliche, von der Zellteilung bis zur Abwehr von Infektionen. Ist die Funktion von Ubiquitin gestört, kann das entsprechend alle möglichen ernsthaften Folgen haben und zu Krankheiten wie Krebs oder Bluthochdruck führen. Schulman hat mit ihren Kollegen eine Reihe neuer Methoden entwickelt, um das Ubiquitin-System zu untersuchen. Dabei nutzte sie Ansätze aus Chemie, Biochemie, Massenspektrometrie, Strukturbiologie und Zellbiologie.
„Frau Schulman hat durch ihr interdisziplinäres Vorgehen neue und höchst innovative Methoden entwickelt, um das wichtige Ubiquitin-Molekül besser erforschen zu können“, sagt Professor Christian Maihöfner, Chefarzt der Neurologischen Klinik am Klinikum Fürth. Auch den Ansatz von Lewin bewertet Maihöfner als klug: „Das ist Grundlagenwissenschaft auf hohem Niveau – und sie hat gleichzeitig bereits eine gewisse klinische Bedeutung. Ich kann mir gut vorstellen, dass von der Forschung an den Nacktmullen in einigen Jahren auch die Patienten profitieren.“
Das glaubt auch Gary Lewin vom MDC. Deshalb hat er in Berlin eine der größten Nacktmullenzuchten weltweit aufgebaut. Denn er ist überzeugt, dass ausgerechnet die Schmerzlosen den Wissenschaftlern noch mehr über den Schmerz verraten können. Aber das ist bei weitem noch nicht alles, was wir von den kleinen Nagern lernen können. Nacktmullen können sogar 18 Minuten ohne Sauerstoff überleben, wie Lewin ebenfalls entdeckte. „Sauerstoffmangel ist die wichtigste Ursache für große Krankheitsfelder wie Schlaganfall und Herzinfarkt“, sagt Lewin. Mit seiner Grundlagenforschung legt Lewin gerade womöglich einmal mehr die Basis für neue Therapien.
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