Verlauf der Coronavirus-Pandemie
Mit zwei weiteren kurzen Lockdowns durch den Winter?
Wie geht es weiter mit der Coronavirus-Pandemie in den nächsten Monaten? Das Forschungszentrum Jülich hat zusammen mit dem Frankfurt Institute for Advanced Studies verschiedene Szenarien berechnet. Im Interview erklärt Jan Fuhrmann, wie die Aussichten sind und worauf es ankommt.
Herr Fuhrmann, Sie haben in verschiedenen Szenarien simuliert, wie sich die Pandemie in den nächsten Monaten entwickeln könnte. In den letzten Tagen sind die Neuinfektionszahlen leicht zurückgegangen. Haben wir das Schlimmste der aktuellen Welle schon hinter uns?
Das können wir noch nicht sicher beantworten. Entscheidend für den weiteren Verlauf der Pandemie in diesem Winter wird die Entwicklung der Kontaktrate sein.
Wie genau ist die Kontaktrate definiert?
Die Kontaktrate gibt an, wie viele relevante Kontakte ein Einzelner in einem bestimmten Zeitraum hat, etwa in einer Woche. Als relevante Kontakte zählen die Begegnungen zwischen ansteckenden und gesunden Personen, in denen eine solche Nähe entsteht, dass das Virus dabei übertragen wird. Weil das Virus sehr ansteckend ist, kann das schon der zeitgleiche Aufenthalt zweier Menschen auf Abstand in einem Zimmer ohne Mundschutz sein. Die Kontaktrate wird von vielen Faktoren beeinflusst.
Vom aktuellen „Lockdown light“ zum Beispiel.
Genau, ein Lockdown führt dazu, dass die Kontaktrate zurückgeht. Je umfassender der Lockdown, desto stärker sinkt die Kontaktrate. Auch die Jahreszeit spielt eine Rolle: Im Winter treffen die Menschen vermehrt in geschlossenen Räumen aufeinander, da ist die Kontaktrate höher. Wir beachten all diese Faktoren und lassen sie in die Ermittlung der Kontaktrate einfließen. Und dann simulieren wir, wie viel sich die Menschen begegnen und anstecken, vereinfacht gesagt.
Wie werden sich die Neuinfektionen Ihrer Simulation zufolge in den nächsten Wochen entwickeln?
Wir haben in unseren Simulationen, die wir mithilfe von Differenzialgleichungen durchführen, vier verschiedene Szenarien modelliert. Im ersten Szenario gehen wir davon aus, dass es bei dem vierwöchigen Shutdown im November bleibt und sonst keine weiteren Maßnahmen im weiteren Verlauf des Winters folgen. Das hat Einfluss auf die Kontaktrate, sie fällt im November spürbar ab. Wir unterscheiden hier zwischen einem weichen Lockdown, in dem die Kontaktrate auf 35 Prozent gegenüber der Kontaktrate reduziert wird, und einem harten Lockdown, wo die Kontaktrate auf 25 Prozent sinkt. Der derzeitige Lockdown ist nach aktuellem Erkenntnisstand wahrscheinlich leicht unterhalb des harten Lockdowns angesiedelt.
Was geschieht, wenn der Lockdown Ende November tatsächlich endet?
Ab Dezember würde die Kontaktrate wieder steigen. Im Februar könnte die tägliche Neuinfektionsrate so bei deutlich über 50.000 Fällen liegen, wenn die Kontakte wieder auf das Niveau des Spätsommers zurückkehren und im Folgenden keine neuen Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Außerdem könnte im Februar und März die Zahl der COVID-19-Intensivpatienten auf mehr als 20.000 steigen. Damit wären die Kapazitäten der Intensivstationen in Deutschland vielerorts überlastet – selbst wenn der übrige Krankenhausbetrieb so weit heruntergefahren wird, dass die Zahl der Intensivpatienten, die nicht an COVID-19 erkrankt sind, auf das Nötigste reduziert wird. Erst Ende Mai wäre wieder mit einer Normalisierung der Situation zu rechnen, wenn sich der Effekt des zu erwartenden besseren Wetters bemerkbar macht, wie es schon im vergangenen Sommer zu beobachten war.
Wie ließe es sich verhindern, dass die Pandemie in den nächsten Monaten derart stark andauert?
In einem zweiten Szenario haben wir den Verlauf simuliert, wenn es nach dem Shutdown im November noch einen zusätzlichen 2-wöchigen Shutdown Anfang 2021 gäbe. Das könnte bewirken, dass die täglichen Neuinfektionen die Zahl von 50.000 nicht überschreiten, und dass die Zahl der erforderlichen Intensivbetten unter 20.000 bliebe. Außerdem würde der maximale Bedarf an Intensivbetten erst später erreicht, was mehr Zeit für eine Vorbereitung auf diese Situation erlaubte. Würde im Februar ein weiterer, dritter Lockdown von zwei Wochen erfolgen – unser Szenario 3 –, könnte die Zahl der benötigten Intensivbetten unter Umständen sogar dauerhaft unter 10.000 liegen. Mit noch zwei weiteren, kürzeren Lockdowns könnten wir also einigermaßen durch den Winter kommen. Alternativ könnte eine Beibehaltung von Kontaktreduktionen, wie sie schon vor dem Lockdown vielerorts in Kraft waren, zusammen mit einer besseren Selbstisolation von Personen, die es für gut möglich halten, infiziert zu sein – etwa aufgrund von Symptomen oder bekannter Kontakte zu Infizierten –, ein erneutes Ansteigen der Neuinfektionen und in der Folge der Intensivpatientenzahlen bis zum Frühjahr unterbinden.
Wie zuverlässig sind diese Simulationen?
In die Modellierungen beziehen wir auch verschiedene Altersklassen und die entsprechenden Risiken und die Kontakte der Altersklassen untereinander ein; auch Feinheiten wie die Tatsache, dass in vielen Haushalten Kinder und Eltern zusammenleben, werden da berücksichtigt. Trotzdem können wir damit nur die wahrscheinliche Entwicklung bei entsprechenden Rahmenbedingungen angeben, in der Realität kann es doch wieder ganz anders kommen. Doch mit jedem Tag, an dem die Berichte des Robert-Koch-Instituts uns Daten liefern, werden unsere Berechnungen besser, weil sie sich ja zu einem großen Teil aus den Daten der Vergangenheit speisen. Je länger die Pandemie dauert, desto verlässlicher dürften unsere Simulationen werden. Alle Simulationen, die über wenige Wochen hinausgehen, können schon allein deshalb nur Szenarien beschreiben, weil sie immer ganz bestimmte Annahmen über Entscheidungen der Politik und Reaktionen der Bevölkerung machen. Und letztlich bleibt beim reinen Blick auf die Fallzahlen immer die Frage nach der möglicherweise stark schwankenden Dunkelziffer offen.
Theoretisch könnte man ja schon jetzt eine Art Plan bis zum Frühjahr aufstellen, der auf solchen Simulationen basiert und weitere kurze Lockdowns vorsieht?
Das könnte man, es ist aber natürlich nicht unsere Aufgabe, das zu beschließen. Wir können den Entscheidungsträgern und im Grunde auch jedem einzelnen Interessierten nur etwas an die Hand geben, um die unklare und sehr dynamische Entwicklung etwas besser einschätzen zu können. Das Problem bei eventuellen künftigen Lockdowns könnte meines Erachtens nach sein, dass ein beschlossener Lockdown erst mit Verzögerung wirkt. Frühestens nach ungefähr einer Woche gehen die Neuinfektionszahlen erst zurück, davor steigen sie noch an. Angesichts der intensiven gesellschaftlichen Diskussion über die Notwendigkeit von Maßnahmen wie dem Lockdown kommen diese also erst dann infrage, wenn die Situation sich bereits zuspitzt. Und dann kommt hinzu, dass ein paar Tage Vorlaufzeit nötig sind, um alles vorzubereiten. Deshalb wird der Lockdown wohl auch in Zukunft eher spät kommen, die Lage wird sich in den ersten Tagen des Lockdowns weiter verschärfen, dann wird zu hoffen sein, dass man mit dem späten Lockdown noch einmal die Kurve kriegt. Im November scheint dies nach dem aktuellen Stand gelungen zu sein, auch wenn wir natürlich nicht sicher sagen können, wie groß der Beitrag des Lockdowns zur Verkleinerung der Kontaktrate ist. Einiges in den Daten deutet darauf hin, dass bereits lokale Maßnahmen und eine gesteigerte Sensibilität in der zweiten Oktoberhälfte einiges bewirkt haben.
Was ist, wenn schon Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres ein Impfstoff verfügbar wäre?
Die Wirkung eines Impfstoffs könnten wir wunderbar in unsere Simulation integrieren. Jeder aus der Gruppe der Gesunden, der geimpft wird, würde durch die Impfung im Grunde zur Gruppe der Genesenen wechseln. Denn die Impfung führt ja zu der Immunität, die man sonst nach einer durchgemachten Infektion erreicht. Je nachdem, wie viele Impfungen durchgeführt werden und bei wem, könnte hier relativ schnell ein Fortschritt erreicht werden. Die Impfungen könnten tatsächlich zum „Gamechanger“ werden, falls sich die optimistischen Studienergebnisse bezüglich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Impfstoffe auch in der realen Anwendung bestätigen.
Der Physiker und Mathematiker Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich arbeitete bei der Entwicklung der Simulationen eng mit Epidemiologen und Mathematikern zusammen.
Weitere Informationen
Originalpublikationen zur Modellentwicklung im Laufe der ersten COVID-19-Welle:
Archives of Public Health (Juli 2020)
PLOS ONE (September 2020)
Pressemitteilung des Forschungszentrums Jülich
Aktualisierte Simulationen (Stand: Ende November 2020)
Leser:innenkommentare