Porträt
Grenzgänger der Wissenschaft
In den theoretischen Disziplinen vermisste Michael Meyer-Hermann den Bezug zu den „echten“ Problemen der Menschheit. Nun verbindet der Braunschweiger Wissenschaftler Physik, Biologie und Mathematik, um die medizinische Forschung voranzutreiben. Sein aktuelles Anliegen: Den Verlauf der COVID-19-Epidemie mithilfe von mathematischen Modellen vorhersagen.
Wenn man mit Michael Meyer-Hermann spricht, fällt ein Begriff besonders oft: Dynamik. Die Entwicklung biologischer Systeme, der Verlauf einer Krankheit, die Interaktion von Erregern mit dem Immunsystem – das alles sind dynamische Prozesse. Sie stehen im Mittelpunkt der Forschungsarbeit des Braunschweiger Wissenschaftlers. Auch er selbst wirkt alles andere als statisch: In Jeans und Lederjacke jettet der drahtige Physiker üblicherweise von Konferenz zu Konferenz und zurück ins Labor. Oder auch mal tief in kanadische Wälder, wo der Handyempfang schlecht ist und er bis auf ein paar Strumpfbandnattern niemanden trifft. In der Coronakrise ist er außerdem zu einem gefragten Experten in Talkshows und Medien geworden, der die Entwicklung und Dynamik der COVID-19-Epidemie fundiert einschätzen kann.
Mathematische Modelle ergänzen medizinische Momentaufnahmen
„In der Medizin basieren viele Datenanalysen auf einzelnen Schnappschüssen der Zustände von Patienten“, erklärt Meyer-Hermann. Ärzte können aus diesen Schnappschüssen Erkenntnisse über den aktuellen Stand einer Erkrankung gewinnen. Dafür nutzen sie unter anderem Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) wie maschinelles Lernen. In welche Richtung eine Krankheit sich weiter entwickeln wird, ist auf Basis einzelner Messwerte allerdings schwer zu erfassen. Nehmen wir das Beispiel eines Botenstoffes, den Zellen bei Entzündungen ausschütten. Eine erhöhte Konzentration dieses Stoffes im Blut zeigt eine Entzündung an. Ob diese aber gerade erst entsteht oder schon abklingt, kann der Arzt allein an diesem Wert nicht erkennen.
Michael Meyer-Hermann und seine Mitarbeiter entwerfen deshalb mathematische Modelle, die dynamische Vorgänge im Körper des Menschen vorhersagen können. Mathematik betrachtet er als Handwerkszeug für die Erforschung von Naturphänomenen. Und mit Zahlen und Formeln kennt er sich aus. „Meine quantitative Ausbildung aus der Promotion in Theoretischer Physik im Gebiet der Quantenfeldtheorie habe ich in die Biologie getragen“, erzählt der Physiker. In der Theoretischen Physik vermisste er den Bezug zu „echten“ Problemen der Menschheit. Den fand er in der Biologie, insbesondere der medizinischen Forschung. Meyer-Hermann denkt gerne in Systemen, erforscht zum Beispiel das Immun- und das Nervensystem des Menschen und deren Interaktionen.
Heute leitet er die Abteilung System-Immunologie am Braunschweig Integrated Centre of Systems Biology (BRICS), dem Forschungszentrum für Systembiologie des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung HZI und der Technischen Universität Braunschweig. Biologe ist er zwar nicht, aber: „Immer öfter stelle ich mich inzwischen als Immunologe vor“, so der Wissenschaftler mit der Doppelrolle. Disziplinübergreifend zu arbeiten und zu denken ist für ihn ganz natürlich. Neben Physik und Mathematik hat Michael Meyer-Hermann sich in seinem Philosophiestudium mit der Theorie der Ästhetik und mit dem Phänomen der Intuition befasst. „Der Einfluss dieser Faktoren auf die Wissenschaft“, meint er, „wird wahrscheinlich unterschätzt.“ Intuition, Ästhetik und Experimente begleiten den Physiker-Immunologen auch außerhalb seiner Forschung. Er unterstützt seine Frau, die Künstlerin anna.laclaque, bei der Entwicklung experimenteller Kunstprojekte und Performances durch Photographie und Elektromusik. Gemeinsam versuchen sie, die Grenzen künstlerischer Disziplinen zu sprengen. In Braunschweig findet das Paar nicht zuletzt durch die renommierte Hochschule für Bildende Kunst eine lebendige Szene für experimentelle Kunst.
Den Verlauf einer Erkrankung vorherzusagen ist von zentraler Bedeutung, um für jeden Patienten die optimale, individuell angepasste Therapie auszuwählen. Und auf die kommt es an, nicht nur um Menschen mit chronischen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis zu helfen, sondern auch, um hochinfektiösen Erregern wie dem Coronavirus SARS-CoV-2 oder dem Ebolavirus entgegenzutreten. Methoden des maschinellen Lernens können Modelle hervorbringen, anhand derer sich Krankheitsverläufe vorhersagen lassen. „Sie schöpfen ihre Vorhersagekraft allerdings allein aus den Patientendaten“, gibt Meyer-Hermann zu bedenken. In seine mathematischen Modelle dagegen fließen auch wissenschaftliche Erkenntnisse und medizinische Erfahrung ein. „Dabei basieren unsere Modelle auf strikten erkenntnistheoretischen Prinzipien“, betont er – wieder hört man den theoretischen Physiker heraus.
Big Data und die Sprache der Mathematik
Michael Meyer-Hermann arbeitet mit Big Data, um seine Modelle zu entwickeln. Dabei steht Big in seinem Fall häufig nicht für die schiere Menge. „In allen Projekten, die ich bearbeitet habe, hatten wir eigentlich zu wenig Daten“, sagt er. Gerade medizinische Untersuchungsergebnisse in der erforderlichen Qualität sind nämlich ein rares Gut für die Systembiologen. Häufig stammen die Daten, mit denen sie arbeiten müssen, aus unterschiedlichen Quellen. Big steht dann eher für die große Heterogenität des Ausgangsmaterials. In dem Fall nutzt der studierte Physiker, Mathematiker und Philosoph die Sprache die Mathematik, um elegante Brücken zwischen den Erkenntnissen aus diversen Disziplinen zu bauen.
Den Verlauf der COVID-19-Epidemie bewerten und Prognosen erstellen
Sein Talent als Brückenbauer zeigt sich auch in der Coronakrise. Bisher wissen wir noch viel zu wenig über die Verbreitung des Virus. Um verlässliche Aussagen über den Fortgang der COVID-19-Epidemie treffen zu können, hat sich Michael Meyer-Hermann deshalb mit Wissenschaftlern des Forschungszentrums Jülich zusammengetan. Mithilfe von mathematischen Modellen analysieren die Experten epidemiologische Daten in Deutschland und modellieren den Verlauf der Epidemie unter unterschiedlichen Bedingungen. So vergleichen sie beispielsweise die weitere Entwicklung unter der Voraussetzung, dass die Maßnahmen zur Kontaktsperre weiter beibehalten oder gelockert werden.
Dreh- und Angelpunkt ihrer Arbeiten ist die Entwicklung der Reproduktionszahl. Dieser Wert gibt an, wie viele Menschen ein mit COVID-19 Infizierter durchschnittlich ansteckt. „Ist die Reproduktionszahl größer als eins, verbreitet sich das Virus exponentiell. Ist sie kleiner, endet der Ausbruch irgendwann. Und bleibt sie im Bereich von eins, dann kommt es zu einer Form von Koexistenz von Mensch und Virus,“ erklärt Meyer-Hermann. Täglich geben die Forscher neue Daten in die Modelle ein und können so tagesaktuell bewerten, ob und wie die Kontaktbeschränkungen wirken. Dabei haben Meyer-Hermann und sein Team ein Ziel vor Augen – den sukzessiven Ausstieg aus den Kontaktbeschränkungen zu erreichen, ohne die Kontrolle über das Virus zu verlieren. Auch hier hat der Physiker und Immunologe die Tücken des Systems genau im Blick: „Zwar können wir jeden Tag eine neue Vorhersage machen und so die Lockerungen bewerten und gegebenenfalls umkehren. Aber man muss vorsichtig sein: Das ist immer zeitverzögert. Wie beim Steuern eines Schiffs: Es fährt noch eine Zeit in die ursprüngliche Richtung, bevor es seine Richtung ändert.“
Prozessmodellierung bringt Erkenntnisgewinn und klinischen Fortschritt
In einem anderen Projekt programmierten Meyer-Hermann und seine Kollegen ein Modell, mit dem sie berechneten, zu welcher Tageszeit ein entzündungshemmendes Medikament am besten verabreicht wird, um die optimale Wirkung zu erzielen. Ihr Ergebnis warf die gängige Cortisol-Therapie für rheumatoide Arthritispatienten über den Haufen und veränderte die klinische Praxis. „Es war ein großartiges Erlebnis, als mein Nachbar, der an rheumatoider Arthritis leidet, mir erzählte: Michael, deine Forschung hat Wirkung. Mein Arzt war auf einer Fortbildung und hat mir gesagt, ich solle die Pille jetzt abends nehmen.“ Wenn also nicht nur das Modell stimmt, sondern auch die Patienten direkt profitieren, fühlt sich Meyer-Hermann in seinem Wechsel in die medizinische Forschung bestätigt.
Besonders spannend findet er, wenn die Vorhersagen aus seinen Modellen einmal nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. „Dann hat man etwas falsch gemacht und kann diesen Fehler lokalisieren", erklärt er. Das kann zu einem echten Umbruch in einer Forschungsdisziplin führen. „Denn die Daten lügen nicht“, weiß Meyer-Hermann. Also müssen die Experten, deren Wissen in das Modell eingeflossen ist, ihre Thesen überprüfen – und häufig neu formulieren. Auf diese Weise tragen die mathematischen Modelle der Systembiologen nicht nur dazu bei, Diagnose und Therapie von Patienten in der klinischen Praxis zu optimieren. Gleichzeitig bringen sie einen greifbaren Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft.
Die interdisziplinäre Arbeit mit Forschern aus aller Welt hält Michael Meyer-Hermann auf Trab. Und auch privat ist er viel auf Achse. „Mit meiner Frau reise ich sehr viel. Wir sind immer auf der Jagd nach vergessenen Orten in den Metropolen der Welt, die sich für eine Kunst-Performance eignen.“ Oft bringen sie von ihren Besuchen Material für neue Werke mit. „Wir machen Aufnahmen von einer eigenen Kunstaktion in den Straßen oder auf Gebäuden und Brücken der Stadt“, erzählt Meyer-Hermann. Zurück in Braunschweig können sie diese multimedialen Eindrücke dann weiterverarbeiten. „Zu ruhig ist es uns im Leben eigentlich selten gewesen.“
Update vom 23.03.2021: Dieses Portrait stammt aus dem Jahr 2018. Die Ursprungsversion dieses Textes bezeichnete Michael Meyer-Hermann als „Querdenker“. Das sollte den interdisziplinären Charakter seiner Forschung zum Ausdruck bringen. Mit Beginn der Corona-Pandemie haben wir den Text aktualisiert und zuletzt auch den Begriff „Querdenker“ gestrichen, da dieser seit der Pandemie völlig anders besetzt ist als zuvor.
Als Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) simuliert Michael Meyer-Hermannn die Auswirkung verschiedener Bedingungen auf die Entwicklung der Pandemie in Deutschland mithilfe mathematischer Modelle. Weitere Informationen zur HZI-Forschung gibt es hier.
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