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Porträt

Erforscher des Vergessens

Christian Haass, Sprecher des Münchner Standorts des DZNE. Bild: LMU

Christian Haass ist ein Pionier der Demenzforschung. Im letzten Jahr gewann der Molekularbiologe den renommierten Brain Prize – und will jetzt am Münchner Standort des DZNE einen therapeutischen Ansatz entwickeln. 

Die Idee, die am Anfang seiner Durchbrüche in der Hirnforschung stand, überfiel Christian Haass in einem Kanu. Es war Wochenende, mit seiner Frau paddelte er über einen See im US-Bundesstaat Maine und war eigentlich auf der Suche nach einem Eistaucher, einem seltenen Vogel mit prächtigem Gefieder. "Im Labor trieb mich die Frage nach den Auslösern von Alzheimer um", erinnert sich Christian Haass, "und dort auf dem Wasser hatte ich die Idee, mich intensiv mit dem Eiweiß Amyloid zu beschäftigen."

Mehr als zwei Jahrzehnte liegt diese glückliche Eingabe inzwischen zurück, Haass war damals als Postdoc in Harvard. Heute ist er Sprecher des Münchner Standorts des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und zählt weltweit zur Speerspitze der Alzheimerforscher. Vor ein paar Monaten wurde der 57-Jährige mit dem Brain Prize ausgezeichnet, dem Nobelpreis für Hirnforscher. Seinen zwei großen Themen ist Christian Haass in der Zeit seit dem Paddelausflug in den USA treu geblieben: Dem Amyloid ist er noch immer auf der Spur – und seine besten Ideen bekommt er auch heute noch, wenn er unterwegs ist zur Vogelbeobachtung.

Wenn er morgens in sein Labor direkt neben dem Münchner Klinikum Großhadern kommt, eisern um 20 Minuten nach sechs, ist Christian Haass vorher oft schon draußen an einem der Seen im Voralpenland bei den Vögeln gewesen. Das braucht er, um den Kopf frei zu bekommen – so wie damals im Kanu auf dem amerikanischen See. Hier am Schreibtisch aber schaltet er um, hier ist er nicht mehr Vogelkundler, sondern Hirnforscher. Eine riesige Glasscheibe trennt seinen Schreibtisch vom Labor, in dem seine Kollegen stehen. „Am liebsten wäre es mir, wenn ich mein Büro direkt im Labor hätte ohne diese Glasscheibe“, sagt er. „Aber das ließ sich aus bautechnischen Gründen nicht machen." Immerhin kann er jetzt mit ein paar Schritten hinübergehen und mit seinen Kollegen diskutieren, wenn er wieder einmal über einer Publikation grübelt und zwischendurch einen neuen Gedanken besprechen will.

Meistens dreht es sich dabei um das Protein Amyloid, mit dem sich Haass fast seine ganze Forscherkarriere über beschäftigt. "Es gibt eine auffällige Pathologie im Gehirn aller Alzheimerpatienten", erläutert Haass. "Sie alle haben Eiweißklumpen im Gehirn, sogenannte Plaques. Der wichtigste Bestandteil dieser Klumpen ist ein kleines Eiweiß mit dem Namen Amyloid, das umliegende Nervenzellen tötet." Als Haass noch in Harvard forschte, stellte er eine Überlegung an, die – sollte sie sich bewahrheiten – die Alzheimerforschung revolutionieren würde: Dieses Amyloid könnte bei allen Menschen vorhanden sein und nur im Alter stärker konzentriert auftauchen. Um diesen ungeheuren Verdacht zu erhärten, griff Haass zum Selbstversuch: Er untersuchte sein eigenes Blut auf Amyloide – und konnte sie prompt nachweisen. "Danach nahm ich das Blut von sämtlichen Harvard-Professoren auf meinem Flur“, erinnert er sich, „und fand dort höhere Konzentrationen von Amyloid als bei mir." Sie waren auch älter als er. Nach und nach arbeitete Haass den Beweis dafür heraus, dass das Eiweiß tatsächlich in jedem Menschen vorhanden ist und es der Körper von jungen Leuten lediglich besser verarbeiten kann. Je älter ein Mensch wird, desto größer wird die Amyloidkonzentration. Haass’ provokante Schlussfolgerung: "Überspitzt ausgedrückt, jeder von uns kann an Alzheimer erkranken – man muss nur alt genug werden!"
 

Seine Freizeit verbringt der Alzheimerforscher Christian Haass am liebsten mit dem Beobachten der Vogelwelt – hier auf Ekkerøy im äußersten Nordosten von Norwegen. Bild: Christian Haass

Dass er sein Leben der Demenzforschung widmen würde, war lange nicht klar. Seine Eltern wären in der Kindheit hohe Wetten eingegangen, dass der Junge einmal Ornithologe werden würde. Haass lacht: "Mein Vater sagte einmal: 'Der Junge hat nur Laufen gelernt, um zu den Vögeln gehen zu können. Und er hat nur Lesen gelernt, um mit den Bestimmungsbüchern arbeiten zu können!'" Aber weil die Berufsaussichten für Ornithologen unsicher gewesen seien, habe er sich schließlich für die Molekularbiologie entschieden. In Heidelberg war er noch nicht einmal beim Diplom ange- kommen, als ihn "der Blitz traf", wie er sagte: Groß wurde an der Universität die Antrittsvorlesung von Professor Konrad Beyreuther angekündigt, einem Pionier der Alzheimerforschung. "Ich habe mir seinen Vortrag angehört und war hin und weg", erinnert sich Haass, "die Entscheidung über meinen weiteren Weg fiel in dieser Vorlesung!" Mit Beyreuther, der Haass’ großer Mentor wurde, ist er bis heute eng befreundet.

Was ihn faszinierte, waren die weiten, unberührten Ebenen, die vor den Forschern lagen: "Damals konnte man alles, was zum Thema Alzheimer geschrieben worden war, an einem einzigen Wochenende durchlesen“, sagt er. Mitte der 1980er-Jahre war das, als sich zugleich abzeichnete, dass wegen der Alterung der Gesellschaft eine gewaltige Sprengkraft in diesem Thema steckte. Als Haass bald darauf in Harvard anfing, veröffentlichte er in den ersten drei Jahren drei Papers in Nature, einem der renommiertesten naturwissenschaftlichen Magazine, das Texte nur bei bemerkenswerten Durchbrüchen abdruckt. „Diese Goldgräberstimmung war unvorstellbar. Egal, was man damals angefasst hatte, die Ergebnisse waren super."

Als er sich 1999 für eine Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München interessierte, bewarb er sich mit der Idee, einen Sonderforschungsbereich für Neurodegenerationen aufzubauen. Er bekam den Ruf – und schon ein Jahr später nahm der Sonderforschungsbereich seinen Betrieb auf. Jetzt, vor wenigen Monaten, bekam Haass’ Arbeit nochmals neuen Schwung: Der gesamte Münchner Standort des DZNE ist in einen Neubau gezogen, der für die Forschung maß-geschneidert wurde und in dem die Wissenschaftler zusammen mit ihren Kollegen vom Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung sitzen. Auch der SyNergy-Cluster, der im Rahmen der Exzellenz-initiative entstand und dessen Sprecher Haass ist, hat hier seinen Sitz. Haass’ Büro mit der gläsernen Wand zum Labor liegt im dritten Stock, eine Etage darunter werden Patienten behandelt. "Dieser unmittelbare Kontakt zwischen uns im Labor und den Kollegen im klinischen Bereich ist unbezahlbar, der bringt uns gewaltig voran", schwärmt Haass. Für sein eigenes Team stellt er mittlerweile immer öfter Mediziner ein, die zusätzlich als Binde-glied fungieren. "Ich selbst als Nicht-Mediziner darf mich ja nicht ans Bett der Patienten stellen." Wieder einmal kommt Haass zur genau richtigen Zeit: Um die Forschung voranzutreiben, muss er dringend Biomarker finden – Hinweise im Körper, die schon frühzeitig auf den späteren Ausbruch einer Alzheimererkrankung hinweisen. "Um diese Indikatoren zu finden, braucht man natürlich die Molekularwissenschaft, aber eben auch möglichst viele gut charakterisierte Patienten. Diese beiden Seiten können wir hier zusammenbringen."

Von den medizinischen Möglichkeiten, die er durch seine Forschung erschließen kann, ist Christian Haass so elektrisiert, dass er fast nichts anderes an sich heranlässt. "Das geht nur, weil meine Frau mir den Rücken freihält", räumt er ein: "Ich gehe nie einkaufen, ich kenne mich überhaupt nicht mit Finanzen aus, ich weiß nicht einmal, wie viel ich hier eigentlich verdiene." Nur für eins nimmt er sich neben der Wissenschaft noch Zeit – für die Vögel. "Da war ich schon immer kompromisslos: Zweimal pro Woche gehe ich Vögel beobachten, Punkt. Samstags und sonntags bin ich prinzipiell immer draußen, ganz unabhängig vom Wetter, und dann manchmal noch morgens vor der Arbeit."

Kann er eigentlich jetzt, wo er den Brain Prize gewonnen hat, im Leben noch etwas erreichen? Haass antwortet wie aus der Pistole geschossen: Er will einen therapeutischen Ansatz so weit entwickeln, dass er an Patienten eingesetzt werden kann. Und noch ein Ziel gebe es da, sagt er und schmunzelt: eine Expedition in die Antarktis. "Die Hochseevögel, die Albatrosse, die dort brüten – das ist absolut irre. Das will ich einmal erleben!" Im nächsten Sommer geht es aber erst mal nach Spitzbergen, um die hocharktische Vogelwelt zu studieren. 

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