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Einzelzellanalyse

Ein Puzzle mit 37 Trillionen Einzelteilen

Christin Sünkel. Bild: Stefanie Herbst

Forscher wollen die Genaktivität einzelner Zelle analysieren und dadurch besser verstehen, wie Krankheiten entstehen und sich entwickeln. Die Systembiologin Christin Sünkel vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin erklärt, wie das funktioniert.

Bricht ein Auto zusammen, ist es manchmal nur eine Frage von Minuten, die Ursache zu finden. Schon kann der Schaden behoben werden. Warum das vergleichsweise einfach ist, ist für die Molekularbiologin Christin Sünkel klar: Autos bestehen aus nur zehntausend Teilen, und ein guter Mechaniker kennt jedes einzelne davon. Krankheiten beim Menschen zu diagnostizieren und zu behandeln ist sehr viel zeitaufwändiger und schwieriger. “Ein Grund dafür ist”, erklärt die Doktorandin am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, “dass wir immer noch nur eine vage Vorstellung davon haben, wie unser Körper aufgebaut ist.” Die Maschine des Lebens ist zu komplex.

Jede Zelle hat ein einzigartiges Muster an abgelesenen Genen

Experten schätzen, dass jeder Mensch aus etwa 37 Trillionen Zellen besteht, das ist eine 37 mit 18 Nullen. Aber wie viele sind es genau? Wie funktionieren sie, und wie wirken sie zusammen? Um diese drängenden Fragen der Medizin und der Wissenschaft zu beantworten, planen Forscher aus ganz Europa die Initiative LifeTime. Ziel des Konsortiums aus Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen ist es, die Entwicklung einzelner Zellen über die Zeit und im Zusammenspiel mit den sie umgebenden Zellen nachzuvollziehen - bei gesunden Menschen und im Verlauf von Krankheiten. Dazu nutzen sie eine Bandbreite moderner Methoden der Molekularbiologie, Einzelzellanalyse, bildgebender Verfahren und computergestützter Modellierung. Anfang März hat die EU-Kommission bekannt gegeben, dass LifeTime zu den sechs Gewinnern eines EU-weiten Wettbewerbs gehört, bei dem zukunftsweisende Forschungsvorhaben ausgewählt und gefördert werden.

Christin Sünkel promoviert im Labor von Nikolaus Rajewsky, einem der Koordinatoren der LifeTime Initiative. Wie ihre Projekte zum Verständnis der individuellen Zellentwicklung beitragen, erklärte sie auf dem Helmholtz Horizons-Symposium „The Digital (R)evolution in Science“. Sie untersucht Transkripte, die molekularen Abschriften, die von aktiven Bereichen des Erbgutes erstellt werden. Je nach Typ und Entwicklungsstadium aktivieren Zellen unterschiedliche Gene oder Abschnitte im Erbgut. So besitzt jede von ihnen eine einzigartige Kombination von rund 20.000 Transkripten, ihr sogenanntes Transkriptom. Um Entwicklungsprozesse zu verstehen, sortieren Wissenschaftler Zellen nach Ähnlichkeiten im Transkriptom: Je weniger Unterschiede sie aufweisen, desto näher verwandt sind zwei Zellen. Sünkel hat eine Methode entwickelt, hauchdünne Gewebeschnitte, wie sie zum Beispiel zur Untersuchung von Tumoren eingesetzt werden, in kleine Planquadrate einzuteilen. Mithilfe von Strichcodes kann sie jedes Quadrat und jede einzelne Zelle darin unverwechselbar markieren, bevor sie das Transkriptom analysiert. Anhand des charakteristischen Transkriptoms und der Lokalisation jeder Zelle in dem Schnitt kann Sünkel nun mit großer Genauigkeit verschiedene Entwicklungszustände in dem untersuchten Gewebe beschreiben. 

Das Projekt LifeTime wird ein Umdenken in der medizinischen Forschung bewirken

In einem weiteren Projekt konnten Ihre Kollegen im Labor Ergebnisse der modernen Einzelzellanalysen mit Wissen aus älteren entwicklungsbiologischen Experimenten kombinieren. Dazu nutzten sie bestehende Karten der Aktivität von etwa 80 bekannten Genen in Embryonen der Fruchtfliege, eines seit Jahrzehnten erforschten Modellorganismus'. Für ihr Experiment markierten sie die einzelnen Zellen eines Embryos mit Strichcodes und analysierten deren Transkriptom. Anhand der vorliegenden Genaktivitätskarten konnten sie dann die untersuchten Zellen wie Teile eines Puzzles einem ganz bestimmten Ort im Embryo zuweisen. Als Ergebnis erhielten sie einen ganzen Atlas der Aktivitäten im Erbgut der Zellen eines Fruchtfliegenembryos. 

“Solche Experimente helfen uns, den Werdegang einzelner Zellen und ihre Interaktionen in einem Organismus nachzuvollziehen und sogar Voraussagen über den Verlauf ihrer weiteren Entwicklung zu treffen”, erklärt Christin Sünkel. Das Projekt LifeTime wird ihrer Ansicht nach ein Umdenken in der medizinischen und der Grundlagenforschung bewirken. Denn Organe und Gewebe bestehen nicht, wie zum Zweck einer Diagnose bisher meist angenommen, aus einheitlichen Zellen. Die Forschenden im LifeTime Konsortium betrachten die einzelne Zelle als kleinste funktionelle Einheit des Körpers. “Wir wollen verstehen, wann und warum Zellen krank werden”, so Koordinator Nikolaus Rajewsky, “und, wie wir sie rechtzeitig wieder auf den richtigen Weg bringen können.” 

Christin Sünkels Horizons Vortrag in voller Länge (Länge ~ 12 Minuten):

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