Großes Arbeitstreffen in Köln
Themenübergreifender Austausch
Spannende Forschungsfragen und übergreifende Lösungsansätze zur künftigen Energieversorgung erörterten Helmholtz-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler beim großen Arbeitstreffen der Helmholtz-Initiative „Energie System 2050“ am 19. und 20. Mai 2016 in Köln. Rund 75 Forscher aus allen acht beteiligten Helmholtz-Zentren nahmen daran teil, unter ihnen auch viele Nachwuchswissenschaftler, Doktoranden und Postdoktoranden. Nach internen Workshops zu den einzelnen Forschungsthemen der Initiative bot das große Arbeitstreffen nun ausgiebig Gelegenheit zum forschungsthemenübergreifenden Austausch, wie der Organisator Prof. Dr. Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erklärte. Er vertrat beim Arbeitstreffen den Koordinator der Initiative „Energie System 2050“ und Koordinator des Helmholtz-Forschungsbereichs Energie, KIT-Präsident Prof. Dr. Holger Hanselka.
Speicher und Netze
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den fünf Forschungsthemen von „Energie System 2050“ präsentierten Ziele, Inhalte und erste Ergebnisse ihrer Arbeitspakete in kompakten und perfekt aufbereiteten Vorträgen, an die sich lebhafte Diskussionen anschlossen. Zum Forschungsthema 1 „Speicher und Netze“ sprach Dr. Jörn Geisbüsch vom KIT über „Komponenten und Schnittstellen“ und stellte die Plattform „Power Hardware in the Loop“ (PHIL) vor. Mit PHIL lassen sich in einer Echtzeitsimulationsumgebung verschiedene elektrische Betriebsmittel in einem Gesamtenergiesystem untersuchen. Die Plattform gehört zu der Helmholtz-Energieforschungsinfrastruktur „Energy Lab 2.0“ am KIT, an der auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und das Forschungszentrum Jülich (FZJ) beteiligt sind. Über „Modelle und Szenarien“ für ausgewählte Netze, speziell die Stromversorgung und die Gasversorgung in Deutschland, ihre Validierung sowie Schnittstellen zu Forschungsinfrastrukturen referierte Dr. Uwe Kühnapfel vom KIT. Herausforderungen bestehen in Netzstabilität, (n-1)-Sicherheit sowie Prognosen für erneuerbare Energien wie Sonne und Wind. Dr. Dirk Witthaut vom FZJ widmete sich „Benchmarks“ zur Bewertung von Netzstabilität und Versorgungssicherheit im Energiesystem 2050. Dafür charakterisieren die Helmholtz-Forscher Bereitstellung und Nutzung, simulieren das Gesamtsystem sowie Komponenten und Netze, validieren Modelle, stellen Referenzfälle und -daten bereit und entwickeln mathematische Verfahren zur Bewertung der Resilienz von Versorgungsnetzen, das heißt deren Widerstandsfähigkeit gegen Störungen.
Biogene Energieträger
Über das Forschungsthema 2 „Biogene Energieträger“ referierte Dr. Hans-Joachim Gehrmann vom KIT. Die heute dominanten kohlenstoffbasierten Energieträger werden weiterhin als Rohstoffe für chemische Industrie und Mobilität benötigt. Herausforderungen bestehen darin, auf nachhaltige Kohlenstoffquellen umzustellen und diese durch Einkopplung von regenerativ erzeugtem Zusatzwasserstoff besser auszunutzen, die Bereitstellung biogener Energieträger und die Energieumwandlung unter fluktuierenden Bedingungen in das Energiesystem zu integrieren, für dynamischen Lastwechselbetrieb technisch geeignete Prozessketten zu entwickeln sowie bestehende Infrastrukturen zu transformieren und hochkonzentrierte Kohlenstoffquellen zu identifizieren, um Wirtschaftlichkeit zu ermöglichen. Die „Flexibilisierung der Prozesskette ,thermo-chemische Konversion‘ zur Systemintegration“ erörterte Gehrmann anhand der Bilanz der Prozesskette der bioliq®-Anlage am KIT, die aus trockener Restbiomasse hochwertige synthetische Kraftstoffe und chemische Grundprodukte erzeugt, sowie anhand von Realdaten aus BRENDA, einer ebenfalls am KIT angesiedelten Kraftwerkspilotbrennkammer für staubförmige, gasförmige und flüssige Brennstoffe.
Über ein „Gasturbinen-Brennersystem für den last- und brennstoffflexiblen Betrieb“ sprach Dr. Wolfgang Meier vom DLR. Helmholtz-Wissenschaftler beschreiben das Betriebsverhalten einer in das „Energy Lab 2.0“ am KIT integrierten Gasturbine innerhalb der Prozesskette und in Wechselwirkung mit anderen Komponenten. Dabei fokussieren sie auf den Wirkungsgrad und die Emissionen bei lastflexiblem Betrieb mit verschiedenen Brennstoffzusammensetzungen. Die elektrische Gasturbine mit einer Leistung von 100 MW dient der Strom- und Wärmeerzeugung, dem Ausgleich von Fluktuationen und der Rückwandlung von Speicherstoffen. Dr. Klaus Raffelt und Mark Eberhard vom KIT erläuterten die „Verlinkung entlang der Prozesskette ,Thermo-chemische Biomassekonversion‘“. Mithilfe von Konversionstechnologien für Biomassen lassen sich Zwischenprodukte mit höherer Energiedichte erzeugen. Ziele der Helmholtz-Wissenschaftler sind, die Pyrolyseöle chemisch zu modifizieren, das heißt die sauren Eigenschaften abzumildern und leichtflüchtige Substanzen abzutrennen, sowie die Lagerungsfähigkeit und Alterung der Pyrolyseöle zu untersuchen.
Über „Verknüpfungsmöglichkeiten von biogener Synthesegaserzeugung und Wasserstoffbereitstellung durch Elektrolyse zur Herstellung erneuerbarer synthetischer flüssiger Kraftstoffe und speicherbarer gasförmiger Energieträger“ berichtete Tobias Jäger vom KIT. Denkbar sind verschiedene Verknüpfungsmöglichkeiten, die zu unterschiedlichen Produktqualitäten führen und sich auch im Betriebsverhalten, in der Gesamtumwandlungseffizienz und der Wirtschaftlichkeit unterscheiden. Helmholtz-Forscher ermitteln über modellgestützte Prozesssimulation, techno-ökonomische Bewertung, Methoden des Operation Research sowie experimentelle Validierung anhand der Ergebnisse aus dem „Energy Lab 2.0“ die attraktivsten Möglichkeiten. Eine „Modellbasierte Pfadanalyse für integrierte Biogaskonzepte“ stellte Eric Billig vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) vor. Dabei geht es um eine umfassende und nachvollziehbare Bewertung einer Reihe bestehender und zukünftiger Prozesse der biochemischen Konversion von Biomasse mit Fokus auf Bioökonomie.
Energie- und Rohstoffpfade mit Wasserstoff
Das Forschungsthema 3 „Energie- und Rohstoffpfade mit Wasserstoff“ präsentierte Dr. Martin Robinius vom FZJ. In diesem ermitteln Helmholtz-Forscher vielversprechende Bereitstellungs- und Nutzungskonzepte für erneuerbare Energien und Wasserstoff, quantifizieren das Aufkommen an erneuerbaren Energien sowie die energetische und stoffliche Wasserstoffnachfrage räumlich und zeitlich aufgelöst. Sie entwickeln und verwenden Modelle mit anforderungsgerechtem Detaillierungsgrad, das heißt zeitlich hoch aufgelöst für komplexe und hochdynamische Systeme und ganzheitlich zur Konzept- und Szenarienbewertung. Unter anderem erarbeiten sie „Strategien und Konzepte zum Aufbau einer H2-Versorgungsinfrastruktur für den Straßenverkehr und die Industrie“. Wie erste Ergebnisse zeigen, kann H2 als Treibstoff wirtschaftlich konkurrenzfähig sein, während eine Einspeisung in das bestehende Erdgasnetz um ein Vielfaches zu teuer ist. Daneben untersuchen die Wissenschaftler „Potenzial und Konzepte zur energetischen und stofflichen Selbstversorgung“ in Haushalten und Industrie. So betrachten sie am Beispiel eines Photovoltaik-Batteriespeichersystems den Zusammenhang zwischen Autarkiegrad und Kosten. Dr. Alexander Otto vom FZJ erläuterte „Potenziale und Strategien zur Erreichung einer 80-prozentigen CO2-Minderung“ und die Rolle, die Wasserstoff als Energieträger und Industrierohstoff dabei spielen kann, an den Beispielen Stahlerzeugung sowie Schwerlast- und Flugverkehr. Über „Chancen globaler Bereitstellungsinfrastrukturen für erneuerbare Energien und Wasserstoff“ referierte Dr. Thomas Grube vom FZJ. Ziel der Arbeiten ist, eine Methodik zum Vergleich verschiedener Technologien zu entwickeln, die regionale – geografische, meteorologische, politische und volkswirtschaftliche – Rahmenbedingungen einbezieht.
Lebenszyklusorientierte Nachhaltigkeitsanalyse auf Systemebene
Zum Forschungsthema 4 „Lebenszyklusorientierte Nachhaltigkeitsanalyse auf Systemebene“ sprach Tobias Junne vom DLR über „Methodenentwicklung für die Anwendung von LCSA auf Systemebene und Projektkoordination“. Um das Life Cycle Sustainability Assessment (LCSA) auf Energiesysteme anzuwenden, bedarf es unter anderem der Berechnung zusätzlicher Nachhaltigkeitsindikatoren wie Schadstoff- und Treibhausgasemissionen, Rohstoff- und Flächenbedarf sowie weiterer ökonomischer und sozialer Indikatoren zur multikriteriellen Bewertung zukünftiger Transformationspfade. Dr. Martina Haase vom KIT berichtete anschaulich über die Entwicklung einer gemeinsamen Methode zur Nachhaltigkeitsbewertung von Technologien, die Life Cycle Assessment (LCA), Life Cycle Costing (LCC) und soziale Indikatoren einbezieht, sowie die Bewertung der Fallstudien „Netze und Speicher“, „Biogene Energieträger“ und „Pfadanalyse Wasserstoff“.
Toolbox mit Datenbanken
Im Forschungsthema 5 erarbeiten Helmholtz-Wissenschaftler eine „Toolbox mit Datenbanken“. Dazu erörterte Dr. Karl-Uwe Stucky vom KIT „Datenformate und Datenqualität in Datenbankanwendungen“. Um die Anforderungen an Datenmanagementsoftware und Datenqualität zu untersuchen, einheitliche Formate zum Modell- und Datenaustausch zu erarbeiten und generische Datenservices für eine Energiedatenbankplattform bereitzustellen, analysieren die Helmholtz-Wissenschaftler unter anderem einzelne Anwendungsfälle (Application Cases) aus der Energieforschung. Über „Gebäude- und Netzmodelle für ,Campus Living Labs‘“ sprach Marcus Fuchs von der RWTH Aachen, die mit dem FZJ in der Jülich Aachen Research Alliance (JARA) zusammenarbeitet. Ziel ist, die Energieflüsse innerhalb einer Liegenschaft, beispielsweise am FZJ oder am KIT, dynamisch zu berechnen. Die Modelle umfassen Gebäude unterschiedlicher Nutzung und beinhalten Wärme- und Kälteflüsse.
Mit „Simulations-Plattformen, IT-Systemarchitektur, Sicherheit“ befasste sich Dr. Clemens Düpmeier vom KIT. Geplant ist, eine IT-Systemarchitektur für eine IT-Plattform als Grundlage für ein „Internet der Energie“ zu konzipieren. Zur Ausarbeitung der Architektur verwenden die Wissenschaftler eine internetbasierte kollaborative Dokumentationsplattform. Ebenfalls vorgesehen ist, eine Co-Simulationsplattform zu schaffen, an die sich Simulatoren andocken und so über das Internet nutzen lassen. Stephan Groß von der RWTH Aachen referierte über „Monitoring und Datenauswertung“ eines „Campus Living Lab“ mithilfe eines neuen cloudbasierten Verfahrens. Mit der Plattform FIWARE erstellen die Forscher ein flexibles Werkzeug zur Erfassung, Verarbeitung und Visualisierung aller energetischen Daten.
Über „Prognose und automatisierte Einsatzplanung“ berichtete Prof. Dr. Ralf Mikut vom KIT. Einheitliche und frei verfügbare Prognosetools begegnen sowohl der Volatilität von Wind- und Sonnenenergie als auch den Schwankungen der Energienachfrage und bilden die Basis für eine automatisierte Einsatz- und Wartungsplanung in einem intelligenten Energienetz. Der „Optimierung der Planung zukünftiger Energiesysteme“ widmete sich Dinah Elena Majewski von der RWTH Aachen. Wesentlich dabei ist die vernetzte Betrachtung der Energieformen wie u.a. Strom, Wärme und Kälte. „Regelung und Steuerung“ erörterte Dr. Timm Faulwasser vom KIT. Helmholtz-Forscher erstellen Regelungs- und Steuerungsalgorithmen für den Netzbetrieb und die Netzstabilität, wobei verschiedene Energienetze und entsprechende Speicher gekoppelt sind.
Referenzszenarien
Um Referenzszenarien zur gemeinsamen Verwendung in der Helmholtz-Initiative „Energie System 2050“ zu definieren und konsistente Rahmendaten für die szenarienbasierten Arbeiten bereitzustellen, hat sich eine „Task Force Referenzszenarien“ gebildet. Wie Dr. Stephan Saupe vom DLR berichtete, strebt die Task Force einen einheitlichen und abgestimmten Satz aus Technologiedaten bzw. -steckbriefen, sozio-ökonomischen Rahmendaten sowie eventuell Mengengerüsten der Szenarien an. Vorzugsweise soll ein Basisszenario mit Varianten – beispielsweise für Wasserstoff oder Biomasse – entstehen, das auch die Option beinhaltet, große Stromerzeuger wie Fusionskraftwerke einzubinden.
Das große Arbeitstreffen 2016 der Helmholtz-Initiative „Energie System 2050“ bot allen Beteiligten die Möglichkeit, über die Grenzen von Helmholtz-Zentren, Instituten, Forschungsprogrammen und Forschungsthemen hinauszudenken, wie die teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammenfassend feststellten. Zwischen den Forschungsthemen traten viele Anknüpfungspunkte zur engeren Zusammenarbeit hervor, was der systemischen Perspektive der Initiative entspricht. Deutlich wurden dabei vor allem die Herausforderungen beim Umbau des Energiesystems bis 2050, wie flexible Auslegung, ganzheitliche Betrachtung sowie die Korrelation zwischen verschiedenen Skalen – vom Gebäude und der Siedlung über die kommunale, regionale und nationale bis hin zur globalen Ebene. Angesichts des erfolgreichen Austauschs bei diesem ersten großen Arbeitstreffen werden die Forscher der Helmholtz-Initiative „Energie System 2050“ auch künftig jährlich in themenübergreifendem Rahmen zusammenkommen.