Insektensterben
Wenn das Summen leiser wird
Die Zahl der Insekten sinkt dramatisch. Ursachen und Ausmaß des Rückgangs sind bislang nicht ausreichend untersucht – aber fest steht: Ganze Ökosysteme und auch die Landwirtschaft sind hochgradig von Insekten abhängig. Zahlreiche Forschungsprogramme sollen jetzt mithelfen, die fatale Entwicklung aufzuhalten.
Es schwirrt und flattert und summt. Vielerorts haben Insekten in diesen Frühlingstagen wieder steigende Konjunktur. Da fliegen bunte Schmetterlinge um die Blüten, Bienen sammeln an ihren Beinen gelbe Pollen und zarte Pflanzenstiele biegen sich unter dem Gewicht von landenden Hummeln. Die Bilder gleichen sich von Jahr zu Jahr – und doch scheint die Welt der Sechsbeiner in Unruhe geraten zu sein.
In die Schlagzeilen hat es zum Beispiel die Wahrnehmung vieler Autofahrer geschafft, dass nach langen Fahrten deutlich weniger Insekten auf ihrer Windschutzscheibe kleben als früher. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) am Standort Halle kennt diese Beobachtung. "Sie hat allerdings auch mit dem Design moderner Fahrzeuge zu tun", sagt er. Denn die sind deutlich windschnittiger als die Modelle früherer Jahrzehnte, sodass der Fahrtwind die Insekten nun häufiger über das Auto hinwegträgt. Entwarnung in Sachen Insektenschwund kann Josef Settele aber dennoch nicht geben: Etliche Studien legen einen deutlichen Rückgang der Sechsbeiner nahe.
Eine der jüngsten stammt aus dem Herbst 2017, veröffentlicht von einem Team um Caspar Hallmann von der Radboud-Universität in den Niederlanden und Martin Sorg vom Entomologischen Verein Krefeld. Vor allem in nordrhein-westfälischen Naturschutzgebieten hatten die Forscher zwischen 1989 und 2016 an mehr als 60 Standorten Fallen für fliegende Insekten aufgestellt. Die Ausbeute der gefangenen Tiere haben sie in jedem Jahr gewogen. "Obwohl alle untersuchten Gebiete unter Schutz stehen, haben wir dabei einen massiven Rückgang festgestellt", resümiert Caspar Hallmann. Um etwa drei Viertel hat die Biomasse der Fluginsekten demnach seit Anfang der 1990er- Jahre abgenommen – ein dramatischer Befund. Über die Ursachen können die Forscher bisher nur spekulieren. "Die meisten Untersuchungsgebiete sind klein und liegen wie Inseln in der Agrarlandschaft", sagt Caspar Hallmann. Das bedeute, dass die Insekten im direkten Umkreis ihrer Refugien schlechte Lebensbedingungen fänden. "Es ist daher möglich, dass die Umgebung wie eine ökologische Falle wirkt, die das Überleben der Bestände in den Schutzgebieten gefährdet", überlegt der Forscher. Wie stark der Insektenschwund in den Bereichen sein muss, die nicht geschützt sind, lässt sich indes nur vermuten. "Aus anderen Naturräumen gibt es dazu wenig oder gar keine Daten", sagt Josef Settele. Das Problem: Wer sich ein Bild vom Zustand der Insektenwelt verschaffen will, muss viel Zeit und Arbeit investieren.
"Wir können die bisherige Entwicklung aber nicht so weiterlaufen lassen, bis die Ergebnisse einer [...] Erhebung vorliegen. Wir müssen auch jetzt schon handeln."
Es gilt, die Bestandsentwicklung über möglichst große Gebiete und lange Zeiträume zu verfolgen. "In Deutschland kommen ungefähr 33.000 Insektenarten vor", sagt Till-David Schade vom Naturschutzbund Deutschland (NABU). "Und von nur etwa 20 Prozent davon gibt es genügend Daten, um ihren Gefährdungsgrad überhaupt einschätzen zu können." Von diesen etwas besser untersuchten Arten gilt nach der bundesdeutschen Roten Liste etwa ein Drittel als bedroht oder ausgestorben. Dabei dürfte die Dunkelziffer nach Einschätzung von Till-David Schade sogar noch höher liegen. "Auch bei Arten, die noch als ungefährdet gelten, sehen wir abnehmende Tendenzen", sagt der Naturschützer. Es könnte also durchaus sein, dass diese Kandidaten bei der nächsten Auflage der Roten Liste ebenfalls in eine Gefährdungskategorie eingestuft werden müssen.
Tagfalter beobachten
Zu den wenigen Insektengruppen, über die es schon recht gute Informationen gibt, gehören die Tagfalter. Die auffälligen Tiere lassen sich relativ leicht beobachten, und mit etwas Übung können auch Laien die meisten der etwa 170 in Deutschland vorkommenden Arten auseinanderhalten. Deshalb hat das UFZ in Kooperation mit der Gesellschaft für Schmetterlingsschutz (GfS) im Jahr 2005 eine Art Volkszählung der Schmetterlinge gestartet, bei der jeder Interessierte mitmachen kann. Bundesweit betreut die Projektkoordinatorin Elisabeth Kühn mehrere Hundert Freiwillige, die für das "Tagfalter-Monitoring Deutschland" Daten sammeln. Dazu laufen sie alle ein bis zwei Wochen eine festgelegte Strecke ab und zählen alle Schmetterlinge, die sie unterwegs sehen. Im Jahr 2016 haben zum Beispiel mehr als 300 Teilnehmer rund 215.000 Falter von insgesamt 110 Arten erfasst. "Bisher sehen wir in unseren Daten allerdings noch keinen Trend", sagt UFZ-Forscher Josef Settele. Seiner Einschätzung nach dürfte das daran liegen, dass der größte Schwund der Tagfalter schon vor dem Beginn der Erhebungen im Jahr 2005 stattgefunden hat, während es seitdem keine großen Änderungen gab.
Was aber ist mit den 80 Prozent der deutschen Insekten, über deren Bestände man noch gar nichts weiß? "Um da mehr Klarheit zu bekommen, bräuchten wir dringend ein bundesweites Monitoring", meint Till-David Schade vom NABU. Immerhin sei im Koalitionsvertrag der neuen Regierung vorgesehen, ein Kompetenzzentrum für Biodiversität zu gründen, das eine solche Aufgabe koordinieren könnte. Diesen Plan gelte es nun zu konkretisieren.
Essentiell für die Bestäubung
"Wir können die bisherige Entwicklung aber nicht so weiterlaufen lassen, bis die Ergebnisse einer solchen Erhebung vorliegen", betont Josef Settele. "Wir müssen auch jetzt schon handeln." Fest steht nämlich, dass der Schwund der Insekten massive ökologische und wirtschaftliche Folgen haben kann, weil die Tiere in den Ökosystemen viele wichtige Funktionen erfüllen. Manche helfen zum Beispiel bei der Zersetzung von toten Pflanzen oder Tieren und damit beim Recycling von Nährstoffen. Viele sind auch wichtige Nahrungsquellen für Vögel und zahlreiche andere Tiere. Marienkäfer, Schlupfwespen und Co. sind als natürliche Schädlingsbekämpfer bekannt. Und ein ganzes Heer von fliegenden und krabbelnden Besuchern ist für die Bestäubung zahlloser Pflanzenarten zuständig.
Wie wichtig diese Pollentransporteure sind, zeigt der erste Bericht zur globalen Lage der Bestäuber, den der Weltbiodiversitätsrat IPBES im Jahr 2016 herausgegeben hat. Nur etwa zehn Prozent der Pflanzen weltweit vermehren sich ohne tierische Bestäuber allein durch Pollen in der Luft, im Wasser oder durch Selbstbestäubung – der Großteil ist auf die tierischen Helfer angewiesen. Und auch mehr als drei Viertel der wichtigen Nutzpflanzen der Erde brauchen Blütenbesucher, wenn sie einen hohen Ertrag und eine gute Qualität liefern sollen. Darunter sind viele Obst- und Gemüsesorten, aber auch Raps und Baumwolle, Kakao und Kaffee.
Zwar liefern windbestäubte Pflanzen wie Weizen oder Reis den bei Weitem größten Anteil der weltweiten Erntemengen. Doch immerhin fünf bis acht Prozent ihrer Erträge hat die Landwirtschaft dem IPBES-Bericht zufolge direkt den Bestäubern zu verdanken. Diese bestäubungsabhängigen Ernten haben einen Marktwert zwischen 235 und 577 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Wenn es nicht genügend Bestäuber gibt, drohen daher enorme wirtschaftliche Verluste, weil die Ernten schwächer ausfallen. Und da unter den bestäubungsabhängigen Pflanzen viele prominente Lieferanten von Vitaminen und essenziellen anderen Nährstoffen wie Folsäure sind, könnte eine solche Entwicklung auch gesundheitliche Folgen haben. Zwar verzeichnet die Welternährungsorganisation FAO in den vergangenen 50 Jahren eine globale Zunahme der Honigbienen, doch diese Tiere können unmöglich alle Pflanzen allein bestäuben. Je nach Bau der Blüten gibt es andere Insekten, die diese Aufgabe deutlich effektiver erfüllen können. Für Stangenbohnen und Tomaten, Paprika und Raps sind zum Beispiel Hummeln die Bestäuber der Wahl. Und bei Äpfeln richten Honigbienen und Hummeln zusammen gerade einmal so viel aus wie einzelgängerische Wildbienen.
Je vielfältiger die Bestäubergemeinschaft ist, umso effektiver und zuverlässiger arbeitet sie also. Und umso besser ist sie für die Zukunft gerüstet: Ökologen befürchten zum Beispiel, dass viele Hummeln Probleme mit dem Klimawandel bekommen werden, weil sie keine zu hohen Temperaturen vertragen. In dieser Situation müssten dann andere Bestäuber für sie einspringen. Doch das kann nur klappen, wenn die Retter in der Not nicht vorher durch andere ungünstige Einflüsse zu stark dezimiert worden sind. Zwar werden manche Obstplantagen in China aus Insektenmangel schon per Hand bestäubt. "Im Vergleich zu den darauf spezialisierten Tieren machen Menschen das aber sehr dilettantisch", sagt UFZ-Forscher Josef Settele, "und stümperhafte Bestäubung führt zu kleineren Früchten."
Mehr Vielfalt in der Landschaft, mehr Blüten und kleinere Felder, heißt die Devise. Und natürlich weniger Gift.
Die Forschung zu den Ursachen des Insektensterbens ist indes schwierig, vor allem in größeren Agrarlandschaften. Denn dort wirken viele ungünstige Faktoren zusammen. Die intensive Landwirtschaft lässt den Insekten nicht nur zu wenige und zu weit verstreute Lebensräume; sie dezimiert auch das Angebot an Blüten und Nistmöglichkeiten und bringt Pestizide in die Landschaft, die für die Tiere giftig sind. Gerade in diesem Bereich sehen die Autoren des IPBES-Berichts daher viele Verbesserungsmöglichkeiten: Mehr Vielfalt in der Landschaft, mehr Blüten und kleinere Felder, heißt die Devise. Und natürlich weniger Gift. Tatsächlich gibt es auch vonseiten der Bauern Bestrebungen, die Lage der Insekten zu verbessern. So beteiligt sich der Westfälisch-Lippische Landwirtschaftsverband an Initiativen zur Förderung der biologischen Vielfalt. Im Landkreis Coeswig haben Landwirte zum Beispiel auf einer Länge von 150 Kilometern ihre Äcker mit Blühstreifen gesäumt, damit die Insekten ein reicheres Nahrungsangebot vorfinden. Josef Settele ist davon überzeugt, dass solche Initiativen durchaus Erfolg haben können. Solange Arten noch nicht komplett ausgestorben seien, stünden die Chancen dafür sogar recht gut. "Die meisten Insekten haben ja den Vorteil, dass sie sich schnell vermehren", sagt der Ökologe. Wer ihnen also das Leben wieder leichter macht, sieht oft auch rasch summende Erfolge.
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